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Hauptpastor Christoph Störmer: Martyria

Predigt am 14. November 2010 in Hamburg

Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich.
(Matthäus 5, 10)

Liebe Gemeinde,

manche von Ihnen kennen vielleicht die Szene aus dem ökumenischen Kalender „Der andere Advent“: ein Empfang, Menschen stehen mit einem Glas Sekt beisammen. Fragt der eine: „Und was machen Sie so?“ Antwort: „Ich bin Christ.“ Erstaunte Gegenfrage: „Ach! Interessant! Und was macht man da so?“

Was hätten Sie geantwortet?

Eine klassische Antwort der Kirche lautet, es gebe vier Äußerungen unseren Christseins:

  1. Eine Antwort könnte lauten: „Ich gehe sonntags zur Kirche.“ Damit wäre theologisch auf den Punkt gebracht die Liturgia, also der  im Gottesdienst gefeierte Glaube.
  2. Eine zweite Antwort könnte lauten: „Ich bin im Besuchsdienst unserer Gemeinde“ oder „Ich mache Schularbeitenhilfe im Stadtteil“ oder „Ich arbeite ehrenamtlich im Eine-Welt-Laden.“ Das alles ist die Diakonia, die tätige Nächsten- oder Fernstenliebe, also der praktische, an den Werken der Barmherzigkeit orientierte und gelebte Glaube.
  3. Eine dritte Antwort könnte lauten: „Ich fahre gern zu Kirchentagen, da erlebe ich Gemeinschaft über alle Grenzen hinweg, ein begeisterndes Fest der Begegnung.“ Oder: „Ich ziehe demnächst ein in die Kommunität in der Hafencity, in das ökumenische Projekt „Die  Brücke“. Das wären dann Spielarten der Koinonia, also der geteilte, über kulturelle und ethnische Verschiedenheiten ökumenisch erlebte Glaube.
  4. Schließlich nenne ich zuletzt das vierte, worum es heute in erster Linie geht, das: „Hier stehe ich.“ Noch pointierter: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Das ist Martyria. Damit ist zunächst gar nicht gemeint das, was wir in diesem Gottesdienst von Anfang an im Blick haben: Das Martyrium, also die Tatsache, dass jemand für sein Zeugnis, für seine Überzeugung mit dem eigenen Leben bezahlt und darüber zum Blutzeugen wird. 

Doch so weit bin ich noch nicht. Ich bin noch bei der Person am Cocktail-Empfang, die einen ersten Schritt getan hat, eine Eröffnung gleichsam, und sich als Christenmensch zu erkennen gibt. Also bereit ist, wozu der 1. Petrusbrief auffordert, nämlich „jedem Rede und Antwort zu stehen, der einen auffordert, Auskunft über die Hoffnung zu geben, die einen erfüllt.“ (3,15 – Neue Genfer Übersetzung).

Martyria beginnt also da, wo sich ein Mensch zeigt. So einfach und so schwer ist das! Zeugnis ablegen bedeutet zuallererst: nicht auf andere zeigen, sondern sich zeigen. Auch und gerade wenn es brenzlig wird, nicht wegzuducken, sondern Farbe zu bekennen, sich nicht hinter Floskeln verstecken oder die Verlautbarungen der Kirche, der Partei, der Familientradition zu zitieren, sondern „Ich“ zu sagen, auf sein Gewissen zu hören, im Konfliktfall Gott mehr zu gehorchen als den Menschen.

„Wofür stehst du?“, fragt Giovanni di Lorenzo in seinem jüngst erschienenen, sehr persönlichen Buch. Im Dialog und Zusammenspiel mit Axel Hacke macht sich der Chefredakteur der Zeit auf die Suche nach dem, was in unserem Leben wichtig ist.

Dies Buch ist den Autoren zu einer Inventur geworden: „Was regt uns noch auf? Wo haben wir uns davongestohlen? Wann belügen wir uns?“

Gleich zu Beginn stellen sie fest:

„Überall in der Gesellschaft ist eine große Sehnsucht nach Klarheit, nach Führung und Eindeutigkeit zu spüren. Wir kennen das von uns selbst. Dieses Bedürfnis ist indes kaum zu erfüllen: Es führt in die Irre, wenn man nur dem Leben ständig mit Moral entgegen tritt, es muss ja auch die Moral dem Leben standhalten.

Viele Menschen fühlen sich deshalb orientierungslos. Einige suchen Halt in Heilslehren, weit aus mehr (was in jedem Fall ungefährlicher ist) in Ratgebern. Andere flüchten sich in Zynismus. Und wir? Relativieren wir mit unserem Bekenntnis zur Ambivalenz Werte und entwerten sie damit?

Nein, denn wir wissen sehr wohl, dass man auch heute noch in sehr vielen Situationen sehr klar zwischen Gut und Böse unterscheiden kann – und muss. Wir haben nur versucht, ehrlich zu bleiben: Es reicht nicht, die richtigen Maßstäbe im Leben zu finden. Man muss sie auch vermitteln können, sie mit sich und mit anderen immer wieder ausmachen.“

Und dann beschreiben die beiden die Differenz zwischen unserem Heute in der Bundesrepublik und z. B. Zeiten, derer wir uns in diesem Gottesdienst erinnern:

„Die meisten von uns leben in einem Umfeld, das von ihnen fast nie tief greifende Wert-Entscheidungen verlangt. Wer von uns muss je sein Leben, seinen Wohlstand, die Sicherheit seiner Familie aufs Spiel setzen, indem er für etwas Gerechtes eintritt: einen Menschen durch die Verfolgung durch die Polizei einer Diktatur verstecken oder sich gegen Schläger stellen, die andere bedrohen, oder an einer Demonstration teilnehmen, deren Teilnehmer damit rechnen müssen, im Gefängnis zu landen? Wie viele von uns verzichten auf etwas Wichtiges, weil ihnen ein moralischer Aspekt noch wichtiger ist?

Aber gerade weil wir so wenig riskieren, darf man von uns etwas erwarten: dass wir uns jeden Tag erinnern, wofür wir stehen möchten, ein bewusstes Leben führen, uns der Momente entsinnen, an denen wir den eigenen Werten nicht gewachsen waren und von uns selbst verlangen, es beim nächsten Mal besser zu machen.“

Die Liturgie dieses Gottesdienstes mit ihrem Fokus auf dem Gedenken an die Lübecker Märtyrer stärkt uns genau darin. Indem wir uns unserer Koinonia, unserer Gemeinschaft über alle konfessionellen Grenzen hinweg vergewissern und uns gegenseitig an unser Versagen, aber auch an unsere diakonischen Aufgaben und politischen Verantwortung erinnern, kann jeder und jede einzelne ermutigt werden zu mehr Courage, sich zu zeigen im Sinne der Martyria.

Die Frage „Wofür stehst du?“ lautet dann auch: „Wofür stehst du ein?“ Oder noch zugespitzter: „Wo schreist du für die Juden?“

Indem ich dieses Diktum Bonhoeffers – „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ - aufnehme, habe ich die Meßlatte bereits so hoch gelegt, dass auch unsere vier Märtyrer sie gerissen hätten. Sich an den 10. November 1943 zu erinnern, heißt mit Erschrecken und mit Scham zu sehen, wie weit unsere Kirchen verstrickt waren in das Terrorsystem des Nazistaates. Selbst die Bekennende Kirche fand kein Wort der Solidarität mit den jüdischen Mitbürgern. Und im Fall des Evangelischen unter den vier Geistlichen, deren Schicksal wir heute bedenken, ist es für mich immer noch bestürzend zu lesen, wie seine Kirche ihn preisgab, ihn zuerst mit einem Amtsenthebungsverfahren verstieß, ihn dann als notorischen Querulanten diskreditierte und ihm schließlich gar Trübung des Denk- und Urteilsvermögens „an der Grenze eines Wahns“ unterstellte.

Was wäre geworden, wenn sich stattdessen eine große Zahl der Amtsbrüder hinter die vier gestellt und Zeugnis abgelegt, also auf- und eingestanden wären für die inhaftierten Brüder? Wer weiß, ob aus der Martyria dann ein Martyrium geworden wäre?

Es ist müßig, darüber zu spekulieren. Aber es lohnt allemal, über Martyria in einem sehr umfassenden Sinn nachzudenken als der Bereitschaft, auch in weniger dramatischen Situationen Zivilcourage zu zeigen, auch, um eingeschliffene Gedankenlosigkeiten und bequeme Angepasstheit aufzubrechen, auch mit einer Haltung, die Ingeborg Bachmann mal „Tapferkeit vor dem Freund“ nannte – das war 1953, zehn Jahre nach der Hinrichtung der Lübecker, zu einem Zeitpunkt, als die Wiederbewaffnungsdebatte begann und die Dichterin zu erkennen gab: Künftig soll ein Held sein, wer den Kämpfen fern bleibt, es soll einen Orden bekommen, wer vor den Fahnen flieht und eben mutig jene „Tapferkeit vor dem Freund“ zeigt, die oft schwerer ist als die Tapferkeit vor dem Feind.

Wenn wir zurückdenken an unsere vier tapferen Lübecker, so müssen wir auch daran erinnern, wie viele Jahre es dauerte, nein, was sage ich: es musste ein halbes Jahrhundert vergehen, ehe die nordelbische Kirchenleitung 1993 bekannte: „Mit Schmerz und Scham ist festzustellen, dass die Lübecker Landeskirche sich sofort von Pastor Stellbrink distanzierte und ihn fallen ließ. Sie bedauert das Versäumnis, dass nach Kriegsende keine Rehabilitierung durch den Kirchenrat erfolgte. Sie kann Unrecht nicht wieder gut machen. Sie kann nach 50 Jahren nur mit Erschrecken feststellen, wie willfährig kirchenleitende Persönlichkeiten sich dem Unrecht beugten und einen Amtsbruder und seine Familie ihrem Schicksal überließen. … Die vier Lübecker Märtyrer stehen für die Kirche Jesu Christi, die nicht lavieren und sich nicht in den Dienst des Unrechts stellen darf.“

Gut 10 Jahre nach diesem späten Schuldbekenntnis und der einhergehenden Rehabilitierung und Würdigung evangelischerseits begann die römisch-katholische Kirche mit der Vorbereitung eines Verfahrens, das wir als Evangelische in dieser Form nicht kennen.

Mit der im nächsten Jahr stattfindenden Seligsprechung werden diese Geistlichen – uns zum Vorbild – gleichsam in den christlichen Pantheon erhoben bzw. feierlich als der „Gemeinschaft der Heiligen“ zugehörig erklärt – der Gemeinschaft der Heiligen, zu der wir uns in ökumenischer Gemeinsamkeit im Credo bekennen.

Als Evangelische sind wir da zögerlicher und zurückhaltender – müssen wir doch, wie es im Wochenspruch für diesen Volkstrauertag heißt – „noch alle offenbar werden vor dem Richtstuhl Christi“ (2. Kor. 5,10)

So viel Beschämendes ist offenbar geworden in unseren Kirchen im vergangenen Jahr, so leicht täuscht der Augenschein, immer wieder geschieht es, dass sich hinter frommem Schein ein Abgrund von Verrat und Verbrechen auftut. Das lutherische „simul justus et peccator“, zugleich gerechtfertigt und Sünder, die Erkenntnis der Gleichzeitigkeit von Licht und Schatten, lässt uns zweifeln, ob wir dieses göttliche Gütesiegel der Seligsprechung verteilen dürfen.

Doch in einem Punkt sind wir uns wohl einig: Unsere vier sind längst selig gesprochen von dem, auf dessen Worte wir in der Bergpredigt hören. In der letzten der acht Seligreisungen schließt Jesus den Kreis: Nicht nur denen gehört das Himmelreich -–wie es in der ersten Seligpreisung heißt – , die da geistlich arm sind, die also arm sind vor Gott und es wissen, sondern auch: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich.“

Um der Gerechtigkeit willen – das kann, nach allem, was sich in der sich steigernden Sequenz der Seligpreisungen, vor allem im Zusammenhang mit Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Frieden verdichtet hat, nur heißen: um der Wahrheit, um der letzten, einer existentiellen Wahrheit willen. Sterben, willentlich in den Tod zu gehen, das tut man meistens entweder aus Verzweiflung oder um einer wirklichen Wahrheit willen: weil anders man an der Unwahrheit verzweifeln würde. Solchen gilt solche Seligpreisung.

Als Kirchen haben wir im Laufe unserer Geschichte fast jeglichen Kredit verspielt, über diese Seligpreisung zu predigen, weil wir allzuoft selber zu den Verfolgern Andersdenkender gehörten. Jedoch im Vertrauen auf Jesu frohe Botschaft dürfen wir seine Worte nachsprechen und weiter tragen: Selig sind die Menschen, die als Zeugen ihrer Wahrheit verfolgt werden und dafür mit ihrem Leben bezahlen, als Zeugen gegen verlogene Macht und bösartige Gewalt.

Ja, selig sind die um der Gerechtigkeit willen Verfolgen, selig sind Karl Friedrich Stellbrink, Johannes Prassek, Hermann Lange und Eduard Müller, ihrer ist das Himmelreich.

Amen. 

 

Info


Am 14. November fand im Hamburger Kleinen Michel der ökumenische Gedenkgottesdienst anläßlich des 67. Todestages der Märtyrer statt, die Predigt hielt der evangelische Hauptpastor Christoph Störmer aus der Hauptkirche St. Petri in Hamburg.

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