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Vikar Gerhard Staudt: Wahrheitsfindung

Predigt am 10. November 1970 in Lübeck

Andächtiger Zuhörer!

Wenn ich heute die Lübecker Martyrerpriester würdigen soll, kann ich mich nicht wie andere Prediger vor mir auf eine persönliche Begegnung mit ihnen berufen. In der Zeit, als die zum Tod Verurteilten von Lübeck in das Hamburger Gefängnis am Holstenglacis überführt wurden, also im Sommer 1943, prägten sich mir die ersten Kindheitserinnerungen überhaupt ein: brennende Häuser und die hektische Evakuierung aus der bombardierten Stadt Hamburg. Für meine Generation ist das sogenannte „Dritte Reich“ Geschichte, nicht miterlebte Vergangenheit.

Darum werten Sie es bitte nicht als respektlos, wenn ich in diesem Gedenkgottesdienst die Frage stelle: Haben die Blutzeugen für uns, die nachfolgende Generation, überhaupt noch eine Bedeutung? Haben sie uns noch mehr zu sagen als irgendwelche Großen aus der langen Geschichte der „Helden und Heiligen“?

Sie auf den hohen und unerreichbaren Sockel der „Helden und Heiligen“ erheben – das wäre zwar eine galante Methode, sich vor dem Nachdenken zu drücken. Es wäre aber auch eine Oberflächlichkeit, die dem Zeugnis der Vier höchst unangemessen ist. Sie haben es nicht verdient, daß wir einen Mythos aus ihnen machen. Ein Mythos wird zwar bewundert, aber er verpflichtet zu nichts.

Die Briefe sprechen eine nüchterne Sprache. Sie wurden nicht von „Supermännern an Heiligkeit“ geschrieben, sondern von gequälten und geängstigten Menschen. Sie hatten sich diese bittere Art des Zeugnisses nicht gewünscht und fürchteten sich, daß ihre menschlichen Kräfte versagten. Im Bewußtsein seiner Schwäche schreibt Eduard Müller: „Heute beginne ich erst, die Größe der Heiligen zu ahnen und stehe voll Bewunderung vor ihrem Heroismus, der durch nichts übertroffen wird. Wie weit sind wir doch von einer solchen Haltung entfernt!“ [1]. Freilich bekennen sie auch immer wieder in ihren Briefen, wie sie aus dem Lesen der Bibel, im Gebet und vor allem bei der heimlichen Eucharistiefeier getröstet wurden. Die Briefe sind eine erregende Bestätigung für das, was Christus im Evangelium verheißen hat: Wenn sie euch vor die Gerichte schleppen, überlegt nicht ängstlich, wie ihr euch verteidigen werdet. Der Geist wird euch eingeben, was ihr in jener Stunde sagen sollt.

Aber auch in der Gewißheit solchen Beistandes bewahrt Prassek seine Nüchternheit. Er fühlt sich nicht in der Rolle des Helden gegenüber den Christen außerhalb der Gefängnismauern. Jeder muß eben da seine Pflicht tun, wo er hingestellt ist: „Sehen Sie“, schreibt er, „ich werde, auch wenn ich es nicht wollte, einfach gezwungen, den Willen Gottes zu erfüllen. Sie aber sollen von sich aus freiwillig ihr Leben so ausformen, daß es mit dem Willen Gottes übereinstimmt.“[2]

Gerade dieses Zitat scheint mir besonders wichtig, andächtige Zuhörer, wenn wir nach der Bedeutung der Lübecker Martyrer für unsere Zeit fragen. Prassek spricht selbst aus, wo für uns heute unter völlig anderen Bedingungen die Verpflichtung beginnt.

Eine entschiedene Glaubenshaltung in die Tat umsetzen, das ist damals wie heute eine Lebensaufgabe, auch wenn sie unter veränderten Bedingungen heute ganz andere Lösungen verlangt. Damals gab es für Prassek und seine gefangenen Mitbrüder eine klare Frontstellung: hier Christus mit seinem Auftrag an die Kirche – dort ein totalitärer Staat mit seinem angemaßten Anspruch auf den ganzen Menschen. Wer den unversöhnlichen Gegensatz durchschaute und innerlich wahrhaftig bleiben wollte, mußte mit jenem Staat in Konflikt geraten. Das Zeugnis für Christus mußte sie zu Feinden des Unrechtsstaates machen.

Heute sind die Grenzen zwischen gottgewollt und gottwidrig längst nicht immer so eindeutig zu erkennen. In unserem pluralistischen Staat gibt es einen kaum überschaubaren Spielraum von Meinungen und Weltanschauungen. Niemand wird vor Gericht zitiert, bloß weil er kritische Fragen äußerte. Im Gegenteil: Das In-Frage-Stellen wird so sehr bejaht und gewollt, dass es manchmal schon in eine selbstgefällige Fragemanie und Kritiksucht umschlägt. Die Fronten und Gegensätze verlaufen auch mitten durch die Kirche hindurch. Viele sind überzeugte Christen, aber mit ihrer kirchlichen Gemeinschaft können sie sich nur teilweise identifizieren.

Für den einzelnen ist Wahrheitsfindung heute ein äußerst schwieriges Geschäft. Viele junge Menschen machen aus der Not eine Tugend: Sie wollen sich nicht festlegen und lassen sich nicht festlegen. In einer grundsätzlichen Unentschiedenheit hoffen sie, sich für alles Neue offen und frei zu halten und jedem autoritären Zugriff, von welcher Seite auch immer, entzogen zu sein. Daß bei einer solchen Haltung kaum Antriebe für ein ernsthaftes Engagement zu erwarten sind, braucht nicht lange bewiesen zu werden.

Für einen Christen ist Unentschiedenheit auf die Dauer unmöglich. Das Evangelium zwingt jeden ernsthaften Hörer zur persönlichen Stellungnahme. Es zwingt jede Generation zu einer Antwort, die ihrer Zeit angemessen ist.

Die Lübecker Blutzeugen und mit ihnen viele viele andere Schicksalsgenossen haben auf die Herausforderung ihrer Zeit eine gültige Antwort gefunden. Gültig heißt hier: in Übereinstimmung mit dem Evangelium.

Wenn wir ihre Tat heute ehren, dann müssen wir uns auch darüber Rechenschaft geben, was unsere Zeit denn von uns verlangt. Bei aller innerkirchlichen Meinungsverschiedenheit zeichnen sich doch deutlich genug Aufgaben ab, an denen sich kein Christ einfach vorbeidrücken kann in einen umzäunten privaten Bereich hinein. Ich möchte einige nur stichwortartig nennen:

Da ist das neuerwachte Bewußtsein von der Kirche als Volk Gottes. Für einen Bürger dieses Volkes wäre es unwürdig, sich bloß als willenloses Schaf treiben zu lassen. Kirche braucht denkende, gefirmte Mitarbeiter.

Zu nennen wäre die ökumenische Bewegung, sicher auch eine Frucht der gemeinsamen Bedrohung im „Dritten Reich“. Pastor Stellbrink und Vikar Lange sind in der Todeszelle Freunde geworden. – Die Einheit der Christen darf nicht bloß Sache einiger weniger Experten sein.

Schließlich vielleicht das bedeutendste Zeichen der Zeit: Die Christen und kirchlichen Gemeinschaften entdecken zunehmend ihre Verantwortung für die Welt: Ob es um die Rassenfrage geht oder die Gastarbeiter in Deutschland, um Entwicklungspolitik oder Abrüstung: wir sind als Christen glaubwürdig in dem Maße, wie wir die Not der Schwachen uns zu eigen machen. Das Beispiel der verfolgten CAJ in Brasilien zeigt, daß ernsthaftes Engagement auch heute ähnliche Konsequenzen haben kann wir im „Dritten Reich“.

Die Frage nach dem Engagement ist allerdings immer zugleich die Frage nach dem Glauben. Es ist die Frage nach der Entschlossenheit, mit der wir uns an das Wort Christi binden, auch da, wo es uns dunkel und rätselhaft bleibt. Wo es um diese Entschlossenheit geht, bleibt das Zeugnis der Martyrer zeitlos. Was Prassek am 27. Januar 1943 schrieb, ist heute so aktuell, daß ich damit diese Predigt schließen kann:

„Wenn es niemals Zweifel geben könnte an Gottes Wahrheiten, was wäre dann Großes an unserem Glauben? Es ist ja so einfach, mich in Abgründe zu stürzen, wenn ich ganz sicher in mir die Überzeugung trage, daß ich unbeschädigt aufgefangen werde. Aber das gleiche tun, wenn nichts mehr aus mir für diese Überzeugung spricht, wenn ich mich ganz einzig auf Sein Wort, von dem mir sogar zweifelhaft geworden ist, ob es stimmt, – in solche Abgründe stürze, das stellt Anforderungen.“[3]

Amen.


[1] Josef Schäfer, Wo seine Zeugen sterben ist sein Reich. Briefe der enthaupteten Lübecker Geistlichen und Berichte von Augenzeugen. Hamburg 1946, S. 67f
[2] ebd. S. 19
[3] ebd. S. 30

 

Info


Gerhard Staudt, heute katholischer Pfarrer in Hamburg-Volksdorf, hielt die Predigt anlässlich des Gedenkgottesdienst zum Todestag der Lübecker Märtyrer am 10. November 1970 in der Propstei-Kirche Herz Jesu, Lübeck, als dortiger Vikar.