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Pater Thomas Hollweck SJ: Fastenpredigt

Predigt am 27. März 2011

Vier Menschen im Gefängnis. 1943. Eingesperrt wegen … – Weswegen eigentlich? Wegen ihrer Überzeugungen? Wegen ihres Glaubens? Weil sie Unrecht beim Namen nannten? Warum auch immer, fadenscheinig zum Tod verurteilt. Menschen an der Grenze. Diese Menschen beten.

Anderswo zu anderer Zeit: Ein Erbeben. Ein Tsunami. Eine atomare Katastrophe. Auch da: Menschen beten. Nicht alle vielleicht, nicht immer, nicht in gleicher Weise. Aber Menschen beten.

Überall auf der Welt finden wir das: Sorge um andere. Angst vor der Zukunft. Unrecht. Gewalt. Menschen beten. Not lehrt beten, heißt ein Sprichwort.

Aber Menschen beten auch aus anderen Gründen. Ein Ehepaar hat sich lange darauf gefreut. Jetzt sind sie gerade Eltern geworden. Und sie sagen Gott ihre Dankbarkeit. Etwas ist schön, gelungen, vorangegangen. Und Menschen beten. Jemand spürt, dass er zufrieden, sogar glücklich ist. Und er betet einen Lobpreis. Menschen beten in den unterschiedlichsten Lebenslagen.

Menschen beten vermutlich, seit es Menschen gibt. Möglicherweise ist das sogar ein Kennzeichen des Menschseins: beten können. Ich stelle mich hinein in einen größeren Zusammenhang. Ich nehme Kontakt, Bezug – über mich hinaus – zu etwas, das mich übersteigt und weiter und tiefer ist als ich. Der Raum, der mich trägt und umfängt. Die Quelle, die schon sprudelte, als ich noch gar nicht sein konnte. Der Horizont, der mein Woher und mein Wohin umspannt. Nennen wir diesen Raum „Gottesraum“.

Wir haben gerade dem Gespräch zwischen Jesus und der Frau am Jakobsbrunnen zugehört. Diese Begegnung hat alle Zutaten eines Gebetes. Denn Gebet ist nichts anderes als Gespräch, Kommunikation, Dialog mit Gott, mit Jesus Christus. Letztlich Begegnung.

Die Frau redet mit Jesus. Sie stellt ihm ihre Fragen. Sie sagt ihm ihre Bedenken. Sie benennt ihm gegenüber ihre Sehnsucht. Sie bietet etwas von sich selber an, vom Wasser, das sie schöpfen kann. Und sie hört Jesus zu. (Eine wichtige Zutat, die manche Beter bisweilen vergessen, die zwar ihre Gebetstexte sprechen, aber das Hinhören auf Gott versäumen. Einfach hinhören: Was lässt sich, wenn mein letztes Wort verstummt ist, dahinter und in mir hören.) Und Jesus lässt sich hören. Er sagt Dinge, die sie nicht so ganz versteht. Aber sie hört weiter zu, bleibt im Gespräch. Er sagt Dinge, die für sie überraschend sind. Und sie bleibt mit Interesse dabei, offen, aufnahmebereit. Sie hört hin. Eine wahre Gebetshaltung.

Eine Haltung der Offenheit.

„Herr, hier sind meine Hände.
Lege darauf, was du willst.
Führe mich, wohin du willst.
In allem geschehe dein Wille“

So betete Eduard Müller im Gefängnis. Auch hier finden wir sie, diese Haltung der Offenheit, die sich dem anderen, dem Größeren, überlässt: Ein Gebet, das sich Gott anvertraut. Offen für die Quelle des Lebens.

Ja, wir können Gott als Quelle des Lebens umschreiben. Er ist kein Getränkeautomat. Manchmal besteht die Gefahr, Gott eher als Getränkeautomaten zu verstehen. Ich schmeiße oben hinein die Münze meines – durchaus – kostbaren Gebetes. Und unten müsste ich das Getränk herausziehen können, wobei mit Getränk die Erfüllung konkreter Wünsche gemeint ist.

Ich bitte um Frieden in der Welt. Aber die Welt bleibt im Krieg. Ich bitte um Gesundheit für einen Menschen. Aber die Krankheit lässt sich nicht wegzaubern. Die meisten Menschen haben schon die Erfahrung gemacht, dass Beten so oft nicht funktioniert. Gott ist kein Getränkeautomat. Er ist Quelle des lebendigen Wassers, um das die Frau am Jakobsbrunnen bittet.

Bei den vier Lübecker finden wir diese Quellenerfahrung, eine Ursprungserfahrung. Was auch immer sie erleben, erfahren, das Glück und die Not – damit gehen sie in die Kommunikation mit Gott. Sie erwarten keinen Zauber, der sich erfüllen muss, damit sie glauben könnten. Sie glauben an die Quelle und spüren, dass die Welt erfüllt ist von Gott. Freilich, diese Quelle ist auch nicht einfach immer verfügbar. Gott ist nicht immer zu spüren. Das Gebet bleibt bisweilen trocken.

Johannes Prassek am 11. November 1942 aus dem Gefängnis:

Tage gibt es, die ganz randvoll sind von Ihm, an denen es keinen Gedanken gibt, der nicht mit Ihm geladen ist, von Ihm herkommend oder zu Ihm hingehend, Tage, wo er jeden Augenblick in spürbarster Nähe ist, wo über einem jeden Augenblick wie eine lichte Sonne seine Freude ausgebreitet ist. Und dann auch wieder ganz andere Tage, wo er scheinbar so weit, weit weg von uns ganz andere Wege geht, als wir sie überhaupt gehen können, wo er so unmittelbar uns das zum Bewusstsein bringt, dass er doch immer der ganz andere ist, den wir niemals fassen können, ja, dem wir in solchen Augenblicken, wo wir Ihn glaubten gefasst zu haben, in Wirklichkeit viel ferner waren, als dann, – wenn wir uns weit weg von Ihn glaubten.

Welch ein Glaube: Gott nicht immer spüren können. Und dennoch immer wieder das Vertrauen in seine (auch dunkle) Gegenwart suchen und die Brücke des Gebetes betreten.

So können Menschen Angst haben. So können Menschen Mut haben. So können Menschen schweigen. So können Menschen mutig sprechen. Welche Freiheit! Freiheit für sie in Gott. Freiheit für Gott in ihnen.

Beim Lesen der Briefe der Lübecker Märtyrer ist eines – neben anderem – sehr auffällig und bemerkenswert: In den Briefen wird deutlich, dass sich ihr Leben (ihre Lebenswirklichkeit) ganz mit der Heiligen Schrift verwoben hat. Sozusagen ein Dialog von Leben und Wort Gottes. Somit ein Gebet noch mal ganz anderer Art. Manchmal zitieren sie den Text der Bibel direkt im Brief. Manchmal nennen sie nur die Bibelstelle. So nach dem Motto: Lies mal nach unter...

Das macht z. B. der evangelischen Pastor Karl Friedrich Stellbrink ganz oft:

„Vergleiche dazu 1 Kor 15,19 + Joh 11,25 u. 26.“ (11. 7. 1943 an seine Frau Hildegard)

„Ich grüße Euch mit 2. Kor. 1,3–12 und Mk. 5,36.“ (vgl. Schäfer, S. 83)

„Ich habe nun bald das Ziel erreicht (Röm. 8,18)“. (10. 11. 1943 an seine Frau)

Seine Kinder ruft er auf, als Gemeinschaft zusammenzustehen und verweist auf Joh. 13, 34+35 + 1. Joh. 1,7. [Dort heißt es: Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander!]

Hermann Lange  schreibt am Hinrichtungstag an seine Eltern und seinen Bruder Paul:

„Schlagt doch die folgenden Stellen einmal auf: 1 Kor. 15,43f. 55! Röm. 14,8. Ach, schaut doch hin wo immer Ihr wollt, überall begegnet uns der Jubel über die Gnade der Gotteskindschaft.“

Außerdem zitiert er:

„Was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört hat und was in keines Menschen Herz gedrungen ist, hat Gott denen bereitet, die ihn lieben“ (1. Kor. 2,9.)

Er beschließt diesen Brief mit den Worten:

„Ich umfange Euch alle noch einmal mit einem innigen Kuß der Liebe! Auf Wiedersehen oben beim Vater des Lichtes! Euer – Phil. 1,21! – glücklicher Hermann“ [Denn für mich ist Christus Leben und Sterben Gewinn.]

Verwoben: Das Leben und die Heilige Schrift. Wort Gottes und die eigene Situation. Sie lassen sich nicht mehr trennen. Da ist Gebet, da ist der Dialog eins geworden. Begegnung. Gott ist beim Menschen. Der Mensch bei Gott. Diesen dialogischen Webvorgang dürfen wir als Christen immer wieder suchen.

Über die Jahrzehnte hinweg spricht das Beispiel der Lübecker Märtyrer herein. Über Jahrzehnte hinweg spricht zu uns dieser österliche Satz: „Auf Wiedersehen oben beim Vater des Lichtes! Euer – Phil. 1,21! – glücklicher Hermann“

Ja, ein österlicher Satz. Durch die Fastenzeit hindurch, und sogar durch den Karfreitag hindurch gehen wir auf Ostern zu. Und wenn das Leichentuch des Todes weggezogen wird, erscheint Christus im Gewand der Auferstehung.

Gut, wenn wir uns da mit hineinverweben lassen. Amen.

 

Info


Pater Thomas Hollweck SJ, Jesuit in Hamburg, hielt die Predigt als Fastenpredigt am Zweiten Fastensonntag, 27. März 2011, in der katholischen Propsteikirche Herz Jesu in Lübeck.

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