Bischof Franz-Josef Bode: Herausgefordert
Predigt am 10. November 2001 in Lübeck
Lesung: Weisheit 3, 1–9
Evangelium: Lukas 6, 17–23
Liebe Schwestern und Brüder!
Noch immer sitzen uns der Schrecken und die Erschütterung über die Ereignisse des 11. September in den Gliedern. Allgegenwärtig sind die verunsichernden, beängstigenden Dimensionen des Krieges und der im wahrsten Sinne des Wortes vergifteten Kommunikation, wo Briefe zu Überträgern von schweren Krankheiten werden statt von guten Nachrichten.
Eine besondere Erschütterung löst in diesem Zusammenhang die wachsende Zahl der Selbstmordattentäter aus, die den Terror als Mittel eines heiligen Krieges ansehen. Sie sind bereit, dafür zu sterben und werden dann von vielen in einer fanatisch missbrauchten Religiosität als Märtyrer gefeiert. Es sind „Märtyrer“, bei denen Zerstörung und Gewalt sich fatal mit ihrer Selbsthingabe mischen, was zu einem pervertierten Märtyrertum führt, was uns noch einmal zutiefst erschrecken lässt.
Umso wichtiger und notwendiger ist es heute, auf Menschen zu schauen und sich ihrer zu erinnern, die ihr Leben hingaben gerade gegen Gewalt und Tod bringende Ideologien, die ihr Leben hingaben, nicht um andere mit in den Tod zu reißen und ein Netz des Unheils zu knüpfen, das sich über die ganze Welt spannt bis vor unsere Haustüren, sondern die ihr Leben hingaben, um ein Netz des Heiles und der Gerechtigkeit zu knüpfen, ein Netz, mit dem Menschen zum Leben aufgefangen werden. Am 11. September haben wir es mit „Märtyrern“ auf Seiten von Tätern zu tun, die Religion zur Ideologie machen. Am 10. November haben wir es mit Märtyrern auf der Seite der Religion und der Opfer zu tun, die eine Ideologie entlarven. Sie sind wirkliche Märtyrer, die weit über den Tod hinaus in unsere heutige Welt hineinrufen: Wer nur sich selber lebt, kann keine Frucht bringen, kann keine Zukunft gestalten; nur wer bereit ist sich hinzugeben, sich einzubringen, sich einzumischen, ist der Gestaltung von Leben und Zukunft fähig.
Die Lübecker Kapläne Johannes Prassek aus Hamburg, Hermann Lange aus Leer, Eduard Müller aus Neumünster und ihr evangelischer Mitbruder Karl-Friedrich Stellbrink wurden genau heute vor 58 Jahren hingerichtet. „Ihr Scheiden von uns gilt als Vernichtung, aber ihre Hoffnung ist voller Unsterblichkeit“, so sagt uns heute die Lesung aus dem Buch der Weisheit über sie.
Diese Hingerichteten, die für Unzählige damals stehen, fordern uns bis heute und gerade heute heraus durch die alltägliche Annahme der Realität des Lebens und durch den gewaltlosen Widerstand gegen Ungerechtigkeit, Lebensbedrohung, Gewalt und sich selbst vergöttlichende Anmaßung; sie fordern uns heraus, nicht nur Zuschauer zu bleiben und Mitläufer zu sein, sondern uns ganz einzusetzen für menschenwürdiges Leben und auf vielfältige Weise Zeichen zu setzen für ein anderes, größeres Leben, das kein Strang und kein Fallbeil töten können.
Immer wieder nehme ich mit großer Ergriffenheit und Erschütterung das kleine, abgegriffene, fast zerlesene Neue Testament von Hermann Lange in die Hand, das ihn stets begleitet hat. An diesem Buch kleben der Angstschweiß und die Tränen der letzten Stunden genauso wie die Tröstungen und Aufrichtungen, die er durch die heiligen Worte empfangen hat. Die Texte sind von ihm bearbeitet, unterstrichen, sie waren ihm ‚Nahrung‘ in schwerster Stunde, wie es bei Jeremia heißt: „Kamen Worte von dir, so verschlang ich sie. Dein Wort war mir Glück und Herzensfreude.“
In seinem Abschiedsbrief schreibt Hermann Lange über die Paulusbriefe: „Schlagt doch die Stellen auf: 1 Kor 15,43 und 55 oder Röm 14,8: ,Was gesät wird, ist armselig, was auferweckt wird, ist herrlich. Was gesät wird, ist schwach, was auferweckt wird, ist stark‘ und ,Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ oder ,Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder sterben, wir gehören dem Herrn.‘ Ach, schaut doch hin, wo immer ihr wollt, überall begegnet uns der Jubel über die Gnade der Gotteskindschaft. Was kann einem Gotteskind schon geschehen? Wovor wollt ich mich denn noch fürchten?“ – Hermann Lange lebte also ganz aus dem Wort, und die anderen nicht weniger, der evangelische Pastor sicherlich darin besonders eingeübt.
Damit fordern diese vier Märtyrer uns heute heraus, eine neue Art von Zeugesein zu entwickeln gegen den Fanatismus pervertierten Märtyrertums, gegen die Versuchung zum Fundamentalismus; sie fordern uns heraus, jede Gewalt gegen Gewalt zu vermeiden; aber sie fordern uns auch heraus zum Zeugesein gegen die Überzeugungsunfähigkeit, Beliebigkeit und Unverbindlichkeit einer zahnlos und harmlos gewordenen allgemeinen Religiosität, die kein Gesicht, keine Verbindlichkeit, keine Herausforderung, keine ,Provokation‘, keine Überzeugungskraft, keine Leidenschaft, kein Feuer mehr hat und deshalb auch weniger ,Vokationen‘, Berufungen hervorbringt, Berufungen von Menschen, die sich für das Christentum in dieser Gesellschaft mutig und ‚unverschämt‘ einsetzen.
Der Zeit- und Schicksalsgenosse P. Alfred Delp fragt in einer Predigt zum Peter- und Paulsfest 1941: „Kirche, bist du lebendig oder bist du am Ende? Bist du fertig oder feierst du neue Anfänge?“ und benutzt dann Worte, die heute mindestens so aktuell sind wie damals:
„Sind wir noch glühende Menschen? Ist noch irgend eine Leidenschaft in unserer Seele, für die man sich selbst einsetzt? Oder ist das alles so nüchtern und dürftig und schön geordnet, dass es kein Herz mehr entzündet? Der glühende Mensch! nicht der Fanatiker! Der glühende Mensch, dem man anspürt, dass er aus tausend Weihungen kommt, der an Dinge gerührt hat, die nicht auf der Straße liegen: Das ist der Mensch, auf den Kirche gebaut hat … So heißt die Antwort auf die Frage: Kirche, wirst du leben oder sterben? so: Die Kirche wird leben, wenn wir wieder vor den Herrgott hingeraten und von ihm angerührt und erfüllt sind, so dass wir bereit sind, für ihn zu sterben. Aus dem Tod zum Leben kommen, das soll unser Geheimnis sein. Wenn uns diese große Bereitschaft nicht gelingt, wenn wir den Raum für den Herrgott nicht mehr erobern, dann hilft uns nichts mehr. Die Grundfrage ist: Ob wir noch einmal groß genug sind, das, was mit Kirche gemeint ist, zu leisten. Kirche wird leben, wenn wir unseren Herrgott wieder einmal gern haben, so persönlich gern haben, dass wir bereit sind, für ihn zu sterben, für ihn das Leben einzusetzen.“ (Alfred Delp, Kirche in Menschenhäneden, Hrsg. Roman Bleistein, Frankfurt 1984, S. 77.79)
Die vier Märtyrer fordern uns heraus
- zu einer Umkehr zum Wesentlichen – gegen alle Verzettelung und Segmentierung unserer Wirklichkeit in alles Mögliche, wo niemand etwas verpassen möchte, weil er dieses Leben als letzte Gelegenheit ansieht;
- zu einer Umkehr ins Existentielle – gegen ein reines Mitläufertum, ein nur vom großen Milieu getragenes Christentum hin zu einer personalen und entschiedenen Weitergabe des Christlichen aus persönlicher Entscheidung;
- zu einer Umkehr ins Miteinander– gegen die Beziehungsunfähigkeit und den Egoismus hin zu einem Miteinander im persönlichen Bereich, im Austausch der Gaben und Fähigkeiten von Einzelnen und Gemeinden, zwischen den Kirchen in der Ökumene und im Dialog mit den Religionen, besonders mit dem Islam;
- zu einer Umkehr zum Ganzen, d. h. ganzheitlich den Menschen mit Leib und Seele im Blick zu haben und im katholisch-umfassenden Ganzen zu leben, in diesem Sinn aufs Ganze zu gehen, statt nur aus einer engen persönlichen, wehleidig-selbstumkreisenden Sicht der Dinge;
- zu einer Umkehr ins Vertrauen, statt ständig zu misstrauen und zu hinterfragen und die Verneinung mehr zu lieben als die Bejahung; es geht darum, positive, konstruktive Widerstandskräfte zu entwickeln aus der Erfahrung des Größeren und nicht aus egoistischer Kleinkariertheit;
- sie fordern heraus zu einer Umkehr in die Solidarität – gegen alle Entsolidarisierung hin zur Solidarität mit den Armen und durch die Maschen der Gesellschaft Gefallenen, hin zu einem den Menschen zugewandten Glauben;
- sie fordern heraus zu einer Umkehr ins Gebet, in eine neue Sprache über Gott, aber noch mehr mit Gott – gegen die Tabuisierung und Sprachlosigkeit im Glauben; erst dann enthält unser Glaube wieder die Kraft, die durch Berührung, durch erfahrbare menschliche Begegnung und Zuwendung heil macht, heil macht von innerer und äußerer Krankheit, von Besessenheit, d. h. von Abhängigkeiten jeder Art, wie das Evangelium es ausspricht.
Wenn wir uns heute in den Kirchen und Gemeinden viele Gedanken machen, wie in Zukunft zu glauben, Gottesdienst zu feiern, solidarisch zu handeln und Gemeinde zu gestalten sei, sind es eben die Märtyrer der Art der Lübecker Märtyrer, die für uns Zukunftsgestalten sind, weil wir mit ihrer Haltung Zukunft gestalten können; Zukunftsgestalten, weil ihr Tod nicht Scheitern war, sondern Leben in Potenz, als Geburtswehen neuer, größerer Zukunft anzusehen ist in Menschenwürde und gerechtem Frieden – worum wir mit ihrer Provokation, mit ihrem Vorbild, mit ihrer Fürsprache auch weiterhin und noch mehr ringen.
Gerade weil wir heute besonders bedroht sind von den Versuchungen der sogenannten ,Biowissenschaften‘ zur Machbarkeit des Menschenfund von der Versuchung zur Gewalt und Zerstörung der Menschen und der Welt – bedroht also im Leben und im Frieden–, gerade deshalb ist die Lebensbotschaft der Märtyrer ein Stachel im Fleisch. Sie ist ein Stachel, der wach hält für die Zukunft, wach gegenüber neuen Totalitarismen des Marktes und des Konsums, der überdrehten Jugendlichkeitsideale, des Fortschritts, der Rasanz, der Mobilität, der Spaß- und Erlebniskultur, des Individualismus und des Egoismus. Sie hält in uns wach, dass Gewalt und Krieg vielleicht die Hasser vernichtet, aber eben nicht den Hass. Sie fordern uns heraus, nicht nur etwas von uns zu geben (Geld oder einzelne Fähigkeiten), sondern uns selbst einzubringen, wie Paulus im 1. Thessalonicherbrief sagt: „Ich wollte euch nicht nur am Evangelium Christi teilhaben lassen, sondern an meinem eigenen Leben.“ Nur dadurch zeigt sich in unserer Mitleidenschaft mit den Menschen unsere konkrete Gottesleidenschaft. Pflegen wir nicht eine Mystik der geschlossenen Augen, sondern der offenen Augen (Metz).
Liebe Schwestern und Brüder: Dieser Ort des Gedenkens, diese relativ unscheinbare Gebetsstätte der Lübecker Märtyrer, die jährliche Erinnerung und das Innehalten und Bedenken ihrer Lebensbotschaft wird dann fruchtbarer für die Zukunft der Kirche sein als manche durchgeplanten Konzepte und manche Verlautbarung. Liebe Schwestern und Brüder, die Lübecker Märtyrer sind durch ihren Tod wahre, echte Hoffnungsträger. Sie sind Hoffnungsträger, weil sie – um es im Anklang an ein Wort von Marie-Luise Kaschnitz zu sagen – uns die Augen dafür öffnen, dass „in dem undurchsichtigen Sack Zukunft“, den wir oft kaum schultern zu können glauben, „doch noch eine Menge Entzücken steckt.“ Amen.