Bischof i.R. Prof. Dr. Ulrich Wilckens: Selig und heilig
Vortrag am 6. Mai 2011 in der Domgemeinde Lübeck
Selig und heilig – Eine ökumenische Besinnung anlässlich der Seligsprechung der vier Lübecker Märtyrer
1. Die Seligsprechung der Lübecker Märtyrer in ihrer ökumenischen Bedeutung
Am 25. Juni dieses Jahres wird in der katholischen Herz-Jesu-Kirche in einem feierlichen Gottesdienst die Seligsprechung der drei katholischen Kapläne Hermann Lange, Eduard Müller und Johannes Prassek vollzogen, die gemeinsam mit dem lutherischen Pastor Karl Friedrich Stellbrink, am 10. November 1943 im Hamburger Gefängnis am Holstenglacis „im Namen des Deutschen Volkes“ ermordet worden und als Märtyrer im Namen ihres gemeinsamen Herrn Jesus Christus gestorben sind. Deswegen wird zugleich mit der Seligsprechung der drei Kapläne auch ausdrücklich des Martyriums des lutherischen Pastors mit gedacht werden.
Dieser gottesdienstliche Akt wird hier in den Dom übertragen werden. So werden die beiden Schwestergemeinden diesen Akt in vertrauter ökumenischer Gemeinschaft unmittelbar gleichzeitig erleben. Seine ökumenische Bedeutung wird durch das Datum des 25. Juni ganz augenfällig unterstrichen. Dies ist nämlich in den evangelischen Kirchen Deutschlands der Tag des jährlichen Gedenkens der Augsburger Konfession, ihres kirchlichen Grundbekenntnisses. Am 25. Juni 1530 haben die lutherischen Stände dieses Bekenntnis als das ihrige vor dem Reichstag zu Augsburg verlesen. Sie gingen damals davon aus, dass im ersten Teil dieses Bekenntnisses – in den Artikeln 1–21 – eigentlich der Glaube der ganzen katholischen Kirche ausgesprochen sei, und es daher möglich sein müsste, sich auch über die im zweiten Teil geforderten Reformen einig zu werden. Zu dieser Einigung ist es jedoch damals nicht gekommen. Die katholischen Stände legten eine „Widerlegung“ vor, in der sie gerade auch die Grundaussagen so tiefgreifend kritisierten, dass seitdem die Spaltung der Kirche des Westens de facto endgültig geworden ist. Erst seit der 450-jährigen Wiederkehr des Termins jenes Augsburger Reichstags im Jahre 1980 gibt es einen ernsthaften Versuch beider Kirchen, diese Spaltung zu überwinden und im Augsburger Bekenntnis die tiefgreifende Gemeinsamkeit zu erkennen, die damals verkannt worden ist.
Ich sage das hier, weil es darin einen aktuellen Bezug zur Seligpreisung am 25. Juni 2011 gibt: Im 21. Artikel des Augsburger Bekenntnisses nämlich, dem letzten, für den damals noch die Möglichkeit grundlegender Einigung vorausgesetzt wurde, geht es um das Thema der Heiligen. Ich zitiere die Aussagen im Wortlaut: „Vom Heiligendienst wird von den Unsern so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen … Aus der Heiligen Schrift kann man aber nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. ‚Denn es ist nur ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus’ (1Tim 2) … Er allein hat zugesagt, dass er unser Gebet erhören will. Nach der Hl. Schrift ist das auch der höchste Gottesdienst, dass man diesen Jesus Christus in allen Nöten und Anliegen von Herzen sucht und anruft.“
Das war damals gesagt, weil die Heiligenverehrung einerseits sowohl in der Bevölkerung, aufs stärkste vergröbert, geradezu zur Mitte der Frömmigkeit geworden war und den Glauben an Christus und das Gebet zu ihm dagegen tatsächlich in den Hintergrund zu geraten drohte. Andererseits wurde sie vom Klerus geistlich unverschämt und unverantwortlich ausgenutzt, um von den Frommen Geld zu bekommen. Deswegen fühlten sich Luther, Melanchthon und die anderen Führer der Reformation mit Recht als Warner an Christi statt vor einem ins Kraut schießenden Götzendienst. In der Reform der Katholischen Kirche eine Generation später ist vieles von dieser Kritik entarteter Heiligenfrömmigkeit aufgenommen worden. Doch die Ablehnung der Anrufung der Heiligen um ihre Hilfe durch ihre Fürbitte wurde als Irrlehre der Lutheraner gebrandmarkt. Bis zum heutigen Tag ist dieses gegenseitige Nein scharfer Verurteilung in Geltung; und man kann sagen: für viele Protestanten erscheint der Heiligenkult als das hervorstechend Katholische, das sie emotional befremdet und das jedenfalls ganz und gar als typisch katholische Verirrung zu gelten habe.
Dazu zwei Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung; das erste: Als meine Familie am Anfang des Krieges, nach den ersten Fliegerangriffen auf Hamburg, in den Schwarzwald umsiedelte, haben wir von den katholischen Einheimischen immer wieder gehört: „Ha, die Prodeschtande glaube halt nix, net emol an die Gottesmutter Maria und die Heilige alle …“
Das zweite Beispiel stammt aus der Zeit meines aktiven Bischofsdienstes. In der früheren Gemeinde von Propst Mecklenfeld in Kiel-Mettenhof, die mit der dortigen lutherischen Gemeinde die Kirche und das Gemeindehaus gemeinsam hat, als ein herausragendes Zeichen der Ökumene, da brandete ein heftiger Streit auf, als die katholische Gemeinde, vor allem um ihrer vielen neu hinzugekommenen polnischen Gemeindeglieder willen, ein Bildnis der heiligen Maria als Himmelskönigin am Altar aufstellen wollte. Die Evangelischen waren darüber empört. Ich wurde als Streitmittler hinzugerufen. Schließlich einigte man sich darauf, der Statue an der Seitenwand der Kirche ihren Platz zu geben. Doch auch nach dieser Entscheidung rumorte es weiterhin kräftig auf beiden Seiten…
Es ist eben so: Evangelischen ist die katholische Marien- und Heiligenfrömmigkeit noch heute ganz fremd, selbst dort, wo ihre eigene Kirche nach der heiligen Anna oder Elisabeth oder nach dem heiligen Petrus und Jakobus benannt ist – ja es gibt sogar auch Luther-, Melanchthon- und Bonhoeffer-Kirchen. Und noch viel selbstverständlicher heißen gute Protestanten Franz und Ulrich, Katharina und Maria! Und auf der anderen Seite können sich auch modern gesinnte Katholiken den Gottesdienst ihrer Kirche ohne die Anrufung Marias und des heiligen Patrons ihrer Kirche gar nicht vorstellen. Ebenso gibt es keine Priesterweihe ohne das hundertfache „Heiliger NN, bitte für uns!“. Und auch ihr eigenes persönliches Leben wissen sie ganz selbstverständlich unter dem Schutz von Heiligen, die sie um ihre Fürbitte anrufen. So mag es denn auch sein, dass in Lübeck mancher evangelische Christ auf die Nachricht von der bevorstehenden Seligsprechung der drei katholischen Märtyrer zunächst eher befremdet als zustimmend reagiert hat – obwohl es von Anfang an besonders Propst Siepenkort geradezu leidenschaftlich darum gegangen ist, es zu keiner Abspaltung des evangelischen Pastors aus dem geschlossenen Kreis der vier Lübecker Märtyrer kommen zu lassen. So hat sich zweifellos eine erste Befremdung evangelischerseits längst beruhigt. Und es ist auch für uns evangelische Christen ausgesprochen wohltuend, dass der Hamburger Erzbischof die Bitte an den Papst um Seligsprechung der drei Kapläne fest verbunden hat mit der Bitte, die Seligsprechung mit einem ausdrücklichen Gedenken des evangelischen Pastors Stellbrink als zur Gemeinschaft der vier Lübecker Märtyrer hinzugehörig zu verbinden; und Papst Benedikt hat diese Bitte auch mit eigener ökumenischer Ernsthaftigkeit erfüllt.
Es soll hier auch nicht verschwiegen werden, dass ursprünglich sogar erwogen worden war, Pastor Stellbrink in die Seligsprechung selbst mit einzubeziehen. Aber dem konnte die zuständige Hamburger Bischöfin nicht zustimmen – eben wegen des Artikels 21 des Augsburger Glaubensbekenntnisses, an den die Nordelbische Lutherische Kirche gebunden ist, solange eine katholisch-evangelische Übereinstimmung in dieser Sache noch nicht gefunden ist. Doch ruft die Tatsache des gemeinsamen Zeugnisses der vier Lübecker Märtyrer uns unüberhörbar in die ökumenische Pflicht, mit allem Ernst und aller Intensität eine Einigung zu suchen. Und nun ist der bevorstehende Akt der Seligsprechung eine hochaktuelle Herausforderung dazu. Ich will deswegen diese Aufgabe zur Mitte dieses meines Vortrags machen und von lutherischer Seite aus versuchen, ob es nicht in voller Verantwortlichkeit möglich ist, zumindest den entscheidenden Grund unseres evangelischen Bekenntnisses gegen die katholische Heiligenverehrung als ökumenischen Spaltpilz loszuwerden: das apodiktische Nein zur Anrufung der Heiligen.
Im Folgenden werden wir zunächst einen Blick auf „Heilige“ und „Selige“ in der Bibel werfen. Und dabei werden wir uns vor allem auf die Märtyrer konzentrieren.
2. „Heilige“ und „Selige“ in der Bibel
Professor Pesch hat in seinem Vortrag in der „Gemeinnützigen“ als für Katholiken überraschend herausgestellt: Nach dem Neuen Testament sind alle Christen „Heilige“; denn in der Taufe haben wir alle an Gottes Heiligkeit Anteil bekommen, dadurch dass unser Leben ganz, vom Innersten bis in unsere Leiblichkeit, mit dem Leben Christi verbunden, ja geradezu unlöslich verschmolzen worden ist – mit Christus, der am Kreuz für uns gestorben und für uns auferstanden ist. Durch die Kraft seines Selbstopfers sind wir aus der Herrschaft der Sünde, der unersättlichen und rücksichtslosen Lebensgier, befreit worden und haben an Christi Auferstehungsleben teilgewonnen. Das 6. Kapitel des Römerbriefs und der 1.Teil des 1. Petrusbriefs (1,13-2,10) sind dafür die Grundtexte.
„Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr“, so hört es der Prophet Jesaja (6,3). Und worin diese Heiligkeit besteht, sagt der heilige Name Gottes, den er Mose nach dem Buch Exodus in drei Schritten offenbart hat; zuerst: Er ist der eine einzige Gott, sein ICH ist ganz absolut: „Ich bin, der Ich bin“ (3,14). Kein Mensch auf Erden ist ihm gleich, und auch keine der vielen Gottheiten der Völker ist seiner Allmacht entzogen. Er ist der Herr schlechthin. Aber das ist nicht sein eigentliches Wesen – dies besteht vielmehr darin, dass Gott ICH ist nicht für sich selbst, sondern für die, die er sich erwählt hat und unwiderruflich liebt. Das ist das ganz und gar Wunderbare an Gott: seine Heiligkeit wirkt sich in seiner Liebe aus. Das erweist er beispielhaft am Volk Israel: „Dein Gott“ bin ich, lautet die Überschrift über die Zehn Gebote (Ex 20,2). Sie sind die Urkunde seines Bundes mit seinem Volk, das er aus der Gefangenschaft in Ägypten befreit und herausgeführt hat in die Freiheit des Lebens mit seinem Gott. Und das Wunderbarste an dieser Liebe Gottes ist wiederum, dass sie sich nicht einmal durch Abfall und Treubruch der Seinen ungültig machen lässt. So lautet in Ex 34,6 der volle Name Gottes so: „ICH bin Gott als barmherzig und gnädig, auch über meinen Zorn hinaus, reich an Liebe und Treue.“ Diesen seinen Namen hat Gott in der wechselvollen Geschichte mit Israel immer neu verwirklicht – endgültig im Wirken und Geschick Jesu, seines Sohnes, der die heilschaffende Herrschaft der Liebe Gottes allen verkündigt, deren Leben verloren ist, der Sündern vergibt, die sich zu ihm bekehren, und der seinen eigenen Sohn in den Tod hingibt, um alle im Tod Verlorenen zu einem Leben in Gottes heiliger Nähe zu erretten.
Das ist es, was Christen in der Taufe völlig wunderbar widerfährt; und das ist der Grund, warum Christen Heilige sind: durch die Liebe des heiligen Gottes aus der todträchtigen unheiligen Wirklichkeit der Sünde errettet und „geheiligt“, sind wir nun „Heilige“, und durch die Tod-überwindende Kraft des Heiligen Geistes Gottes sind wir mit dem Auferstehungsleben Jesu Christi, seines Sohnes, auf ewig verbunden: Heilige als Erlöste. So hat sich dieser Name für die Christen in der Sprache des Urchristentums sozusagen eingebürgert. Man spricht von den Brüdern und Schwestern des gemeinsamen Glaubens als von „Heiligen“. Alle Briefe des Apostels Paulus sind adressiert an die in Christus geheiligten und daher heiligen Christen seiner Gemeinden, die an je ihrem Ort der ganzen weltweiten heiligen Kirche Gottes zugehören (vgl. besonders 1Kor 1,2).
Und wie steht es mit den Seligen? Das ist am deutlichsten und eindrücklichsten in den Seligpreisungen Jesu zu erkennen: „Selig seid ihr, die Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig seid ihr, die jetzt Hungernden, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig seid ihr, die jetzt weinen, denn ihr werdet lachen (Lk 6,20-21). „Selig“ ist hier ein Zuruf Jesu an Menschen in Lebenssituationen totaler Verlorenheit: gerade sie sind es, die Gott in der nahen Zukunft seines Reiches an dessen Heilswirklichkeit teil geben will und wird. Gott erweist sein Wesen als barmherziger, rettungschaffender Herr im Sinne seines Namens von Ex 34,6 jetzt und hier an Menschen, deren Leben durch Schuld oder Schicksal verloren ist – das ist der Inhalt der Verkündigung Jesu. Das ist so gewiss, wie Gott Gott ist. Diese absolute Gewissheit spricht Jesus ihnen zu. „Selig seid ihr!“ „Selig“ ist also ein göttlicher Zuspruch: Den Seligen spricht Gott ihre Rettung aus Not und Tod zu, ihre Teilhabe an einem Leben, das, nicht mehr von Leid, Tod und Teufel bedroht, so erfüllt und vollkommen sein wird, wie der Schöpfer es seinen Menschen zugedacht hat.
In diesem Sinn hat Jesus Jünger berufen – heraus aus ihrem Zuhause und hinein in seine Nachfolge. In der Radikalität dieser Lebenskehre zeichnet sich die Radikalität des Heilswillens Gottes ab: Sein allmächtiges Wort ruft sie aus ihrer Sünde heraus zu seiner Gerechtigkeit, aus Krankheit und Tod zum Leben, aus der bösen Gewalt des Teufels zur Herrschaft seiner barmherzigen Liebe – und so ruft er sie aus ihrem Eigenen heraus, um ihm auf seinen Wegen zu folgen. „Mein Herr und mein Gott: Nimm mich mir und gib mich ganz zueigen Dir“ – in diesem Gebet des Schweizer Heiligen Nikolaus von der Flühe kommt genau das zum Ausdruck, worum es in der Berufung eines Jüngers in die Nachfolge Jesu geht. „Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine“ – so betet Jesus selbst in Getsemane angesichts seines eigenen Todes; und dieses sein Gebet macht er zur Bitte seiner Jünger im Vaterunser.
Und darum liegt es auch nahe, dass ein Jünger Jesu zu einem Märtyrer wird: „Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt, kann nicht mein Jünger sein“ (Lk 14,27), sagt Jesus ihnen voraus. „Wenn es einem darum geht, sich sein eigenes Leben zu verschaffen, wird er es verlieren; und wer es verloren gegeben hat, wird es zum ewigen Leben gewinnen“ (Lk 17,33). So sagt Jesus denen, die er als seine Boten aussendet, um den Menschen in den Häusern der Dörfer und Städte seine Botschaft zur Annahme des Gottesreichs zu verkündigen, konkret voraus, was sie zu erwarten haben: „Sie werden euch den Gerichten übergeben, und in ihren Synagogen wird man euch auspeitschen. Und Statthaltern und Königen wird man euch vorführen – zum Zeugnis vor ihnen und den Heiden. Allen verhasst werdet ihr sein um meines Namens willen. Wer aber durchhält bis zum Ende – das heißt zum Tod –, der wird gerettet werden“ (Mt 10,17-18.22).
Und so schließt Jesus die Reihe der Seligpreisungen in seiner Bergpredigt ab mit dem besonderen, persönlichen Zuspruch an solche Märtyrer: „Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch sagen um meinetwillen: Freut euch und jubelt, denn euer Lohn im Himmel wird groß sein!“ (Mt 5,11-12). Und als Echo dieser Seligpreisung klingt die Stimme aus dem Himmel, die der Seher Johannes hört: „Selig sind die Toten, die im Herrn sterben von jetzt an: Ja, spricht der Geist, sie werden Ruhe finden von ihren Qualen; denn ihre Werke folgen ihnen nach“ (Offb Joh 14,13). Die Märtyrer werden die Ersten sein, heißt es in der Apokalypse (20,4), denen die Ehre zuteil werden wird, wenn einst die ganze Erde von allen Mächten des Bösen befreit sein wird, an Christi Seite an seiner Herrschaft teilzuhaben.
Alle, die den Lübecker Märtyrern in ihrem Gefängnis begegnet sind, berichten übereinstimmend: So unvorstellbar die körperlichen Qualen waren, denen man sie in den ganzen Monaten bis zu ihrer Ermordung in bewusster Unmenschlichkeit auslieferte, so leuchtete doch in ihren Augen ganz deutlich nicht nur die Gewissheit, den Weg der Nachfolge Christi, ihres gemeinsamen Herrn, zu gehen, sondern auch sogar etwas wie die Vorfreude auf die himmlische Seligkeit, die sie nach diesem Tod erwartete.
3. Müssen evangelische Christen eine Anrufung der Märtyrer um Fürbitte nicht mehr für schriftwidrig halten?
Kehren wir von daher zum bevorstehenden Akt ihrer Seligsprechung zurück und stellen zu unserer evangelischen Vorbereitung darauf die ökumenische Frage, die uns durch diesen Akt unausweichlich gestellt ist: Wenn es denn schon aus Gründen des Bekenntnisses unserer Kirche nicht möglich war, einer Einbeziehung unseres lutherischen Pastors Stellbrink zuzustimmen, lässt sich dann nicht wenigstens begründen, dass wir nicht mehr durch unser Bekenntnis genötigt sind, diesen Akt als solchen abzulehnen? Wäre doch dann unsererseits die so deutliche und eindrückliche ökumenische Gemeinschaft der vier Märtyrer auf ein gemeinsames Gedenken dieser vier Christen beschränkt.
Nun wird zwar dieses bleibende Gedenken der Märtyrer als solches durch das Augsburgische Bekenntnis sogar nachdrücklich bestärkt, wie wir gehört haben. Aber ich denke, auch der entscheidende Sinn der katholischen Seligsprechung: ihre Anrufung im Gottesdienst mit der Bitte um ihre Fürbitte, lässt sich sehr wohl durch Gründe der Schrift annehmen. Nicht nur ist heute für beide Seiten historisch deutlich, dass die Kritik der Reformatoren an der damaligen Praxis des Umgangs mit den Heiligen durchaus berechtigt war: Um deren direkte Hilfe in Nöten aller Art aus eigener Kraft durfte und darf ein Christ, der im Sinne der Schrift an Jesus Christus als den alleinigen Heiland und Retter glaubt, nicht mit Recht beten – dann würde ja aus ihrer Hilfe durch ihre Fürbitte ein Gebet um ihr eigenes Rettungshandeln und somit aus ihrer Anrufung: „Heiliger Stephanus, bitte für uns!“ eine Art Anbetung, die auch nach der offiziellen Lehre der katholischen Kirche abzulehnen ist: Die Heiligen, heißt es hier, dürfen zwar um ihre Fürbitte angerufen, nicht aber selbst als Retter angebetet werden.
Aber auch von der Schrift her ist die Anrufung der Seligen und Heiligen um ihre Fürbitte durchaus möglich. Das ergibt sich erstens aus dem biblischen Sinn der Fürbitte. Dass in der Zeit der Urkirche Christen oft in akuten Nöten füreinander beteten, berichtet zum Beispiel die Apostelgeschichte: Nachdem Petrus und Johannes mit einer ernsten Strafandrohung, keinesfalls mehr Jesus als den Messias öffentlich zu verkündigen, aus der Haft entlassen waren, betete die Jerusalemer Urgemeinde in ihrem Gottesdienst eindringlich um Gottes Schutz für die weitere Verkündigung der Apostel, die für sie alle selbstverständlich war (Apg 4,20.23-31); denn „man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Und als sich die Lage nach dem Martyrium des Stephanus (7,54ff.) und des Jakobus (12,2) sehr zuspitzte und Petrus als der Gemeindeleiter erneut inhaftiert worden war, „betete die Gemeinde ohne Aufhören für ihn zu Gott“ (12,59).
Von zentraler Bedeutung war die Fürbitte des Paulus als Apostel für seine Gemeinden, die er auch ihrerseits um ihre Fürbitte für ihn bat um seinen persönlichen Schutz in den ständigen lebensbedrohlichen Gefahren, denen er in seiner Missionsarbeit ausgesetzt war, und vor allem für den erfolgreichen Fortgang seiner Missionsverkündigung von Stadt zu Stadt. Bewegend ist zum Beispiel der Beginn seines Briefs an die Gemeinde im makedonischen Philippi: „Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke, was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten für euch alle, und ich tue das Gebet mit Freuden …“ (Phil 1,3-4). Hieraus wird übrigens auch ersichtlich, dass Fürbitte und Fürdank aufs engste zusammengehören: Weiß doch der Apostel das ganze Geschick seiner Gemeinden in allen guten wie auch in allen gefährlichen Erfahrungen in Gottes Hand.
Grundlegend wichtig ist: Die Gemeinde als ganze feiert ihren Gottesdienst „in Christus Jesus“. Dieser Ausdruck findet sich in den Briefen des Apostels Paulus überaus häufig, und überall hat er ganz konkreten Sinn: Die Gemeinde ist der Leib Christi (1Kor 12,12-13.27), weil es der für alle in den Tod am Kreuz hingegebene Leib Christi ist, den in jeder sonntäglichen Abendmahlsfeier jeder Christ empfängt (1Kor 11,24). So erfährt nicht nur jeder einzelne von ihnen immer neu für sich selbst, dass der auferstandene Christus in seinem tiefsten Innern ist und wirkt, sodass er beziehungsweise sie im ganzen eigenen Leben „in Christus“ ist und nichts ihn von der Liebe Gottes in Christus trennen kann (Röm 8,38-39). Sondern das Gleiche gilt zugleich für sie alle zusammen: Als Glieder am Leib Christi sind sie einander zu Brüdern und Schwestern „in Christus“ geworden und einander durch Christus gegeben. Diese Gemeinschaft erfahren sie vom Abendmahl in der gottesdienstlichen Versammlung her an allen Tagen ihres alltäglichen Zusammenlebens. Und dies wiederum gilt über die örtliche Christengemeinde hinaus für alle Gemeinden an allen Orten gemeinsam: Sind sie doch durch den einen Herrn alle miteinander verbunden – die Kirche als ganze ist Leib Christi!
Von daher ist es zu verstehen, von welchem Gewicht die Fürbitte und der Fürdank ist: nicht nur für die Christen in der je eigenen Gemeinde, sondern auch für alle Gemeinden miteinander (vgl. z.B. 1Kor 1,2!). Dass es sie gibt, ist dem einen Evangelium zu verdanken, durch das der Heilige Geist Gottes sie gegründet hat; und ebenso ist die fortwährende Vergrößerung der Gemeinden durch neu hinzugewonnene Mitglieder das Werk des selben einen Geistes. So gehören Fürbitte und Fürdank zentral zu jedem Gottesdienst, sie haben ihre Quelle in dem immer erneuerten Geheimnis der Gegenwart des Herrn im Brot und im Kelch als verbindendes, einendes Element. Man kann sich dies nicht konkret und nicht wichtig genug vorstellen.
Besonders gilt das in Situationen unmittelbarer Todesnähe des Apostels wie zum Beispiel in Ephesus: Da drohte ihm im Gefängnis die Ermordung unausweichlich. Dass ihm dann überraschend Rettung widerfahren ist, verdankt er „Gott, der die Toten auferweckt“. Doch ‚mitgewirkt’ hat auch die inständige Fürbitte der Gemeinde in Korinth (2Kor 3,8-11). Paulus scheut in keiner Weise den Märtyrertod: „Mir ist Christus das Leben und Sterben Gewinn“ (Phil 1,21ff.). Denn er weiß: Auch im Tode wird die Nähe zum auferstandenen Herrn nicht aufhören. Für ihn gilt wie für alle Christen, die im Herrn leben, dass sie „immer mit dem Herrn zusammen sein werden (1Thess 4,17). Denn dass alle, die zu Christus, dem auferstandenen Herrn, gehören, nicht im Tod zunichte, sondern zum ewigen Leben auferweckt werden, das gehört zum österlichen Fundament des Glaubens (1Kor 15,12ff.) – schon jetzt und hier vom einen Sonntag zum nächsten, aber dann endgültig in der Zukunft der Ewigkeit.
Wenn wir nun diese fundamentale Glaubensgewissheit der Auferstehung aller Toten, die dem auferstandenen Christus zugehören, ganz ernst nehmen, dann stellt sich eine verblüffend einfache Frage: Gehört es jetzt, in unserer irdischen Lebenszeit, zur Wirklichkeit unserer Verbindung mit dem lebendigen Christus, dass wir für einander beten, sollte diese Wirklichkeit unserer Teilhabe an Christi Auferstehungsleben dann etwa mit unserem Tode abbrechen? Oder noch deutlicher: Sind wir jetzt als Glieder des Leibes Christi dazu imstande und daher auch verpflichtet, kraft des Namens unseres auferstandenen Herrn füreinander zu beten, wie sollte dieses immerwährende Gebet von unserem Tode an verstummen? Sind wir Christen durch die Kraft unserer Taufe laut Eph 2,19ff. bereits jetzt „Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist“ und ist dieser ganze Bau des Leibes Christi bereits jetzt in ständigem Wachstum begriffen hin zu einem heiligen Tempel im Herrn, und werden wir durch Christus „mit eingebaut in diese Wohnung Gottes im Geist“, durch den wir füreinander beten, – wie sollte dieses Aufbaugeschehen durch unseren irdischen Tod etwa abbrechen? Nein und abermals nein! Vielmehr, es vollzieht sich durch die Grenze des Todes hindurch weiter und kommt zur Vollendung in der großen Gemeinde des Himmelreichs und dem ewigen Lobgesang aller vollendeten Christen zusammen mit Gottes Engeln (Hebr 12,22ff.). Heißt es doch von dieser Gemeinde der Heiligen in der Offenbarung Johannis „Diese sind es, die gekommen sind aus der großen Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und ihre Kleider leuchtend hell gemacht im Blut des Lammes. Darum stehen sie vor dem Thron Gottes und singen die (himmlische) Liturgie Tag und Nacht in seinem Tempel; und der auf dem Thron sitzt, hält seine Hand über sie, und es wird sie weder mehr hungern noch dürsten … Denn das Lamm inmitten des Throns wird sie weiden“ (7,14-16). Nun kann man angesichts dieser Vision der endzeitlichen Vollendung sicherlich sagen: Fürbitten zur Rettung in irdischer Not werden es dann nicht mehr sein, denn alle diese Nöte haben dann ihr Ende gefunden. Aber das Eintreten füreinander bei Gott im Gebet wird in dieser himmlischen Gottesdienstgemeinde nicht aufhören, es wird ebenso wichtig sein wie zuvor in der der irdischen Kirche; und im übrigen wird im ewigen Lobgesang der Dank für den Kreuzestod Christi für uns und die jubelnde Osterfreude über seine Auferstehung zu ewigem Leben in ewig währendem Gedächtnis präsent sein und damit zugleich der Dank für alle Bewahrungen und Errettungen der irdischen Zeit, um die wir in unseren Fürbitten füreinander Gott angefleht haben.
Die Auferstehung Jesu ist die entscheidende Bresche durch den Tod hindurch; und sie verbindet die irdische Gemeinde bereits jetzt mit der himmlischen, bis dereinst alle Mitglieder der Kirche Gottes in der himmlischen Gemeinde der vollendeten Heiligen zu letzter Einheit und ewiger Gemeinschaft versammelt sein werden. Beten wir in der Liturgie unserer lutherischen Kirche zu dem Herrn, in dessen himmlischer Nähe wir alle unsere Toten als vollendete Heilige wissen, wie sollten diese im oberen Chor nicht unser als ihrer Schwestern und Brüder vor dem Herrn gedenken? Und schließlich: Wenn wir hier auf Erden füreinander beten dürfen, ohne dass damit die Ehre Christi als unseres alleinigen Fürsprechers vor Gott dem Vater beeinträchtigt wird, wieso sollte dies dagegen der Fall sein, wenn vollendete Christen an Christi Seite für uns beten? Richtet sich doch alle Fürbitte hier wie dort ohnehin an Gott und an Christus als die, die allein alle Fürbitten erhören und erfüllen!
Also: Es ist nicht nur möglich, so zu beten und mit der Fürbitte aller Heiligen zu rechnen – es ist vielmehr schlechthin unmöglich, dies nicht zu tun!
Steht es aber so, dann werden alle verbleibenden Differenzen zwischen unseren Kirchen im Blick auf die Seligen und Heiligen ganz unbedeutend: Zum Beispiel die Ordnungen des Selig- und Heiligsprechungsverfahrens, das dem gottesdienstlichen Akt vorausgehen muss. Wir werden mit gutem biblischem Recht sagen: Wir wissen auch ohne all diese Ordnungen alle vier Lübecker Märtyrer als die, „die überwunden haben“, gleich nach ihrem Tode an der Seite unseres auferstandenen, lebendigen Herrn; und das ist es, was wir Evangelische sehr gern zusammen mit unseren katholischen Mitchristen in jenem bevorstehenden feierlichen Gottesdienst am 25. Juni von Herzen mitfeiern werden. Sie werden nicht selig durch den Akt der Seligsprechung, sondern sie sind es von ihrem Märtyrertod an. In ihrer Seligsprechung bestätigt die Kirche nur, was sie schon sind. Ihre „Erhebung zu den Altären“ ist nicht anderes, als dass die Gemeinden sie in ihren Gottesdiensten um ihre Fürbitte anzurufen berechtigt sind. Uns stehen auch beiderseits die Lebensläufe der vier Geehrten vor Augen als eindrucksvolle Beispiele und Vorbilder sowohl der Gnade Gottes als auch der Glaubenstreue bis in den Tod; und dazu bedarf es keiner amtlichen Überprüfung: Ohne Sünde sind sie alle vier nicht gewesen; und in ihren Abschiedsbriefen bitten sie auch selöbst alle, denen sie in ihrem Leben Unrecht getan haben, um Vergebung. Aber gerade so hat Christus sie gewürdigt, als seine Zeugen vor diesem Gericht des Unrechtsstaates, dem sie mit Recht widersprochen haben, den Märtyrertod zu sterben. Übrigens haben alle Vier – auch der evangelische Pastor Stellbrink – in ihren Abschiedsbriefen ihre Fürbitte von droben den Ihrigen zugesagt.
Und schließlich: Was die „Ehre der Altäre“ betrifft, so dürfen wir Evangelischen durchaus von den Katholiken lernen, dass das Gedächtnis dieser Märtyrer auch zu unserm Gottesdienst wesentlich regelmäßig hinzugehört; und darüber hinaus wäre es sicherlich ein Zeichen bleibender ökumenischer Verbundenheit in der Zeit nach der Seligsprechung, wenn wir an einem Sonntag jeden Jahres ein besonderes Gedächtnis der vier Märtyrer in allen evangelischen und katholischen Kirchen Lübecks vereinbaren würden.