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Pastor Jens-Martin Kruse: Sie bezeugen die Einheit der Kirche

Vortrag bei einem Friedensgebet am 6. September 2004 in Mailand

In dem unruhigen, in Deutschland bereits höchst krisenhaften Frühsommer 1932 predigte Dietrich Bonhoeffer in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Im Zusammenhang der Ermahnung des Apostel Paulus „Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist“ (Kol 3,2) betonte Bonhoeffer in scheinbarer Verkehrung des Textes, dass die Christen sehr wohl nach dem trachten, „was auf Erden ist“  – gerade weil sie Christen sind. Und deshalb fragte Bonhoeffer seine Gemeinde kritisch,

„ob wir Christen Kraft genug haben, der Welt zu bezeugen, daß wir keine Träumer und Wolkenwandler sind. Daß wir nicht die Dinge kommen und gehen lassen, wie sie nun einmal sind [...] Sondern daß wir, gerade weil wir trachten nach dem, was droben ist, nur umso hartnäckiger und zielbewußter protestieren auf dieser Erde. Protestieren mit Worten und Taten [...]“  Wenn die Kirche diese Kraft nicht mehr aufbringe, „dann“, so fährt Bonhoeffer fort, „müssen wir uns nicht wundern, wenn auch für unsere Kirche wieder Zeiten kommen werden, wo Märtyrerblut gefordert werden wird.“

[...] Zu den Menschen, die in dieser Weise Zeugnis für ihren Glauben ablegten, zählten in der norddeutschen Stadt Lübeck der evangelisch-lutherischer Pastor Karl-Friedrich Stellbrink (1894-1943). [...]

Kennengelernt hatten sich Pastor Stellbrink und Kaplan Prassek bei einer Beerdigung im Sommer 1941. Aus dem spontanen Kontakt ergaben sich Gespräche und man tauschte Information und Nachrichten aus. So gab Stellbrink zum Beispiel an Prassek Texte des evangelischen Landesbischofs Theophil Wurm weiter. Prassek seinerseits ließ Stellbrink die Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf Galen, zukommen, die dieser im Sommer 1941 gegen das sogenannte Euthanasie-Programm (die Tötung geisteskranker Menschen) des NS-Regimes gehalten hatten. [...]

Eine Zusammenarbeit zwischen Pfarrern der evangelischen und der katholischen Kirche war damals in Deutschland ganz und gar nicht üblich. In der Regel gab es unter den Amtsträgern der getrennten Kirchen so gut wie keinen menschlichen oder seelsorgerlichen Kontakt. Pastor Stellbrink und die Kapläne Prassek, Lange und Müller überwanden jedoch die bestehende Distanz zwischen ihren Kirchen, weil sie im jeweils anderen jenen Geist Jesu Christi wahrnahmen, der sie selbst bewegte und antrieb. Diese Erfahrung ließ sie brüderlich zusammenstehen und stärkte ihren Mut, in Lübeck über die Konfessionsgrenzen hinweg gemeinsam dem NS-Regime entgegenzutreten.

Pastor Stellbrink war bereits in den späten 30er Jahren mehrmals wegen seiner kritischen Haltung den staatlichen Stellen aufgefallen. Er war ein Gestalt von ganz eigenem Profil, die sich jeder Zuordnung entzieht. Er gehört nicht der „Bekennenden Kirche“ an, war vielmehr im Jahre 1934 an die Luther-Kirche in Lübeck berufen worden, weil er damals als überzeugter Anhänger der Nationalsozialisten galt. [...]

In ähnlicher Weise wie bei Pastor Stellbrink war der Staatsmacht nicht verborgen geblieben, daß auch die drei jungen katholischen Kapläne deutlich Stellung gegen das NS-Regime bezogen. Die drei Geistlichen waren im Jahre 1939 bzw. 1940 an die Herz-Jesu-Kirche in Lübeck gekommen. Rasch gewannen sie Zuspruch in der Gemeinde. In ihren Gottesdienst und Gemeindegruppen, bei ihren Treffen mit Jugendlichen und in der Seelsorge an Soldaten bezogen sie mit zunehmender Deutlichkeit Stellung gegen das Unrecht und die Vergehen der Nationalsozialisten. Die Geheime Staatspolizei reagierte auf diese Aktivitäten der drei Kapläne im Sommer 1941, indem sie einen Spitzel in das katholische Pfarrhaus schickte, der unter dem Vorwand eines „Konvertiten“ ein Jahr lang weiteres Verdachtsmaterial gegen die Geistlichen sammelte. Verdächtig machte die Kapläne in den Augen des Staates zudem ihre enge Verbindung mit dem lutherischen Pastor Stellbrink. Von Seiten des Staates war man so auf diese vier Lübecker Geistlichen und ihre Zusammenarbeit aufmerksam geworden. Man wartete nun auf eine Gelegenheit, um sich dieser unbequemen Pfarrer zu entledigen und an ihnen zum Zwecke der Abschreckung ein Exempel zu statuieren. Die Gelegenheit kam im Frühjahr 1942.

Als erstes wurde am 7. April 1942 Pastor Stellbrink verhaftet. Den eigentlichen Anlaß dazu bildete die Predigt, die er am Sonntag Palmarum in der Luther-Kirche gehalten hatte. In der Nacht vorher hatten englische Kriegsflugzeuge ihre Bomben über der Altstadt Lübecks abgeworfen. Die ganze Nacht über war Pastor Stellbrink im Einsatz gewesen, um Menschen zu retten und beim Löschen der Brände zu helfen. Übernächtigt und aufgewühlt stand er am Sonntagmorgen auf der Kanzel und wies die Gemeinde auf den lebendigen Gott hin, der sich im konkreten Geschehen zeige. Es gibt keine schriftlichen Aufzeichnungen seiner Predigt, aber Zuhörer haben ihre zentrale Aussage folgendermaßen verstanden und zusammen gefaßt: „Gott hat mit mächtiger Stimme geredet. Die Lübecker werden wieder lernen zu beten.“ [...]

Über ein Jahr mußten die Gefangenen auf ihren Prozeß warten. Dann fand der Prozeß an nur drei Tagen im Juni 1943 vor dem in Lübeck tagenden Volksgerichtshof statt. [...]

Wenige Tage nach der Verhandlung wurden sie in ein Gefängnis nach Hamburg abtransportiert. Einige Wochen teilten sich Pastor Stellbrink und Kaplan Lange eine Zelle. „Anregende Gespräche“, so schreibt Lange in einem Brief vom 14. August 1943 über diese Zeit, „und gemeinsames Tun verkürzen die Tage, die ja so langsam dahinschleichen und doch wieder so schnell entschwinden.“ [...]

Für die evangelische wie für die katholische Kirche ist dies gemeinsame Blutzeugnis der vier Lübecker Märtyrer „ein bleibendes Vermächtnis und einen ökumenische Verpflichtung.“ [...]

„Eine ökumenische Verpflichtung“ von besonderem Stellenwert ist das Blutzeugnis der vier Lübecker Märtyrer, weil erstens während der Zeit des Nationalsozialismus nirgendwo in Deutschland evangelische und katholische Geistliche in so eindeutiger ökumenischer Gemeinsamkeit gegen das NS-Regime „mit Worten und Taten protestiert haben“. Kaplan Lange brachte die Bedeutung ihrer geistlichen Verbundenheit auf den Punkt, wenn er im Juli 1943 notierte: „Das gemeinsam ertragene Leid der letzten Jahre hat die beiden christlichen Kirchen einander näher gebracht. Ein Symbol dieser Leidensgemeinschaft, aber auch der Annäherung, ist die gemeinsame Haft des katholischen und des evangelischen Geistlichen.“

Zweitens wird an dem gemeinsamen Martyrium der Lübecker Geistlichen die für die Geschichte des Christentums bedeutsame Tatsache exemplarisch deutlich, daß nach einer langen Periode des Gegeneinanders nun „Protestanten und Katholiken [...] zum ersten Mal ein partnerschaftliches Martyrium erfahren haben.“ [...]

Von daher läßt sich mit den Worten Papst Johannes Paul II. schließen:

„Das wertvolle Erbe, das uns diese mutigen Zeugen überliefert haben, ist ein gemeinsames Erbe aller Kirchen und aller kirchlicher Gemeinschaften. Es ist ein Erbe, das lauter spricht als die Faktoren der Trennung. Der Ökumenismus der Märtyrer und der Glaubenszeugen überzeugt am meisten. Er zeigt den Christen des einundzwanzigsten Jahrhunderts den Weg zur Einheit auf. Es ist das Erbe des Kreuzes, das im Licht von Ostern erlebt wird: ein Erbe, das die Christen reich macht und aufrichtet, während sie sich auf den Weg ins neue Jahrtausend machen.“

 

 

 

Info


Pastor Jens-Martin Kruse sprach anläßlich eines Friedensgebetes der Gemeinschaft Sant'Egidio in Mailand am 6. September 2004. Pastor Kruse leitet die Evangelisch-Lutherische Gemeinde Roms.

Hinweis


Der Vortrag wurde im Original in englischer Sprache gehalten. Der nebenstehende deutsche Text ist gegenüber dem gehaltenen Vortrag gekürzt, Auslassungen sind markiert.

Englische Version