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Prof. Dr. Wolf: Blutzeugen der Menschenwürde

Vortrag beim Medienempfang des Erzbischofs von Hamburg am 5. September 2007

Märtyrer, Widerstandskämpfer, brave Soldaten?
Deutsche Katholiken im Nationalsozialismus

„Wieviel Dank ist die Menschheit schuldig diesen Blutzeugen nicht nur des Christenglaubens, sondern auch der Menschenwürde, die sie mit ihrem Blut und Leben verteidigt haben! Denn in dem Augenblick, in welchem menschliche Obrigkeit in ihren Befehlen dem klar erkannten, im eigenen Gewissen bezeugten Willen Gottes widerstreitet, hört sie auf, ,Gottes Dienerin‘ zu sein, zerstört sie ihre eigene Würde, verliert sie ihr Recht zu gebieten, missbraucht sie ihre Macht zu belohnen und zu bestrafen, und versucht sie freventlich, die von Gott gegebene Freiheit der menschlichen Persönlichkeit, das Ebenbild Gottes im Menschen zu erwürgen.“

Meine Damen und Herren, diese Worte sind nicht ausdrücklich auf die Lübecker Märtyrer gemünzt. Sie stammen vielmehr aus einer Predigt, die der Münsteraner Bischof Galen am 6. September 1936 in Xanten gehalten hat. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass der evangelische Pastor Karl Friedrich Stellbrink und die katholischen Kapläne Johannes Prassek, Hermann Lange und Eduard Müller diese Predigt kannten. Die drei Kapläne hatten in Münster studiert, und Karl Friedrich Stellbrink war sogar gebürtiger Münsteraner. Ihre Kontakte zu Bischof Galen sind mehrfach belegt; Kaplan Prassek zum Beispiel hatte auf seinem Schreibtisch das Bild des Bischofs stehen.

Im Rahmen des heutigen Medienempfangs sehe ich es als meine Aufgabe an, in der gebotenen Kürze zu skizzieren, vor welchem politischen Hintergrund die Lübecker Märtyrer agierten und an welchen religiösen Leitbildern sie sich orientierten. Das ist unverzichtbar, um ihnen gerecht zu werden: Wer die Lübecker Märtyrer nur an politischen Idealtypen misst oder sie ausschließlich einer der vielen Stufen eines ausgeklügelten Widerstandsbegriffs, wie ihn die moderne Zeitgeschichtsschreibung entwickelt hat, zuordnet, kann ihr Lebenszeugnis nicht angemessen würdigen. Sie zählen nicht zu den Kämpfern eines politisch motivierten Widerstands, noch weniger waren sie „Antifaschisten“ in der Definition des DDR-Regimes. Wer sie als solche vereinnahmen will, muss die Geschichte zurechtbiegen und die Persönlichkeit der Lübecker verzerrt darstellen. Beides ist immer wieder geschehen und hat zu entsprechend heftigen Gegenreaktionen geführt: Dann wurde Stellbrink, Prassek, Lange und Müller gleich jede Bedeutung abgesprochen, eine angestrebte Seligsprechung gar als lächerlich oder zumindest überflüssig hingestellt.

Aber lassen Sie mich zunächst noch einmal auf die Predigt Galens zurückkommen. Anlass war die „Viktorstracht“; eine feierliche Prozession mit dem Schrein des heiligen Viktor, eines antiken Märtyrers und Schutzheiligen der Stadt, die 1936 nach über 50 Jahren erstmals wieder stattfand und an der mehr als 25.000 Menschen teilnahmen. Galen nutzte die Gelegenheit, um grundsätzlich über Martyrium und Gehorsamspflicht der Christen zu sprechen. Er zitierte dabei zunächst den Römerbrief: „Jedermann sei untertan der obrigkeitlichen Gewalt. Denn es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott stammt.“ Doch er verwies auch die Apostelgeschichte: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Diese beiden Bibelzitate markieren das Spannungsfeld, in dem sich viele Katholiken in der Zeit des Dritten Reiches bewegten: Einerseits wurde der grundsätzliche Unrechts-Charakter des Nazi-Regimes immer deutlicher, wodurch zahlreiche Katholiken in arge Gewissensnöte gerieten. „Lieber sterben als sündigen!“, war die Parole, die Galen ausgab. Andererseits wehrten sich viele Katholiken entschieden dagegen, als „romhörige Ultramontane“ aus der Nation oder der Volksgemeinschaft herausdefiniert zu werden. Sie wollten sich als gute Deutsche beweisen und treu ihre Pflichten erfüllen – auch als Soldaten im Krieg, das war selbstverständlich.

Während die grundsätzliche Loyalität der Katholiken zum Deutschen Reich als solchem nie infrage stand, war die Position der katholischen Kirche zum Nationalsozialismus doch durch einige grundlegende Umbrüche gekennzeichnet. Vor 1933 war Katholiken die Mitgliedschaft in der NSDAP prinzipiell verboten. Als Hitler jedoch zum Reichskanzler ernannt worden war und damit die vermeintlich gottgewollte Obrigkeit repräsentierte, schwenkten die Bischöfe um. Die früheren „Verbote und Warnungen“ wurden „nicht mehr als notwendig betrachtet“. Doch die Hoffnungen auf ein gutes Auskommen mit dem Nationalsozialismus erwiesen sich bald als Illusion, die Konflikte spitzen sich immer weiter zu. Die deutschen Bischöfe zögerten jedoch, Klerus und Volk zum Widerstand aufzurufen. Im August 1935 ermahnten sie die Pfarrer sogar nachdrücklich, „auf der Kanzel, in der Schule und im Privatgespräch alle politischen Auseinandersetzungen und Anspielungen zu meiden“. Nicht selten wurde entschiedener Protest als leichtsinnige Dummheit abgetan. Etliche Priester und Laien, die unter den Verfolgungen des Regimes besonders zu leiden hatten, sahen sich von zurückhaltend agierenden Bischöfen alleingelassen. In einer Denkschrift, die Ludwig Wolker den Bischöfen vorlegte, hieß es: „Das ist es, was unter allen Umständen vermieden werden muß ...: Das Martyrium ohne Auftrag.“ Allerdings ist zu unterstreichen, dass sich die katholische Kirche – anders als die Protestanten – nie öffentlich von Mitgliedern distanziert hat, die wegen ihrer Haltung zum Nationalsozialismus verfolgt wurden. „Brückenbauer“ und „braune“ Pfarrer gab es im Katholizismus kaum.

Anders in den protestantischen Kirchen. Hier kam es zu einer Spaltung in die nationalsozialistische Glaubensbewegung der Deutschen Christen und die Bekennende Kirche. Die Deutschen Christen verfochten eine nach dem Führerprinzip organisierte Reichskirche, die Übernahme der nationalsozialistischen Rassenlehre, die Streichung des Alten Testaments aus der Bibel und die Entlassung von „Pfarrern artfremden Blutes“. Doch auch die Gegner einer Politisierung der Religion im Allgemeinen und des Arierparagraphen für Pfarrer im Speziellen formierten sich: Innerhalb eines halben Jahres traten dem sogenannten Pfarrernotbund, aus dem bald die Bekennende Kirche hervorgehen sollte, fast 50 Prozent der evangelischen Pfarrer bei. Es folgten langwierige Auseinandersetzungen innerhalb der evangelischen Kirche. Aber auch die meisten Mitglieder der Bekennenden Kirche sahen sich nicht in grundsätzlicher Opposition zum nationalsozialistischen Staat, sondern legten großen Wert auf ihre nationale Gesinnung. Der sogenannte Kirchenkampf war somit in erster Linie ein Kampf in den protestantischen Kirchen und um die protestantische Kirche, kein Kampf der Bekennenden Kirche gegen die NS-Ideologie.

Allerdings gedenkt auch die evangelische Kirche, die keine Heiligsprechung kennt und die katholische Heiligenverehrung ablehnt, durchaus ihrer eigenen Märtyrer, namentlich während der NS-Zeit. Als der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1949 ein „Märtyrerbuch“ herausgab, das die ermordeten und in den Konzentrationslagern umgekommenen Mitglieder der Bekennenden Kirche aufführte, fehlte der Name Friedrich Stellbrinks. Denn dieser gehörte weder der Bekennenden Kirche noch den Deutschen Christen an, sondern dem „Bund für Deutsche Kirche“, einer kleineren, nationalistisch eingestellten evangelischen Bruderschaft, aus der er 1937 allerdings wieder austrat. Friedrich Stellbrink war nach einigen Jahren als Seelsorger für deutsche Siedler in Brasilien 1929 als glühender Nationalist nach Deutschland zurückgekehrt, wo er sehr bald in die NSDAP eintrat. Unter der linksgerichteten Landesund Kirchenregierung Thüringens war er sogar als „Nazipastor“ verschrien. Nach 1933 distanzierte er sich allerdings bald von den neuen Machthabern, wurde 1936 aus der NSDAP ausgeschlossen. Da er sich weder mit den Deutschen Christen noch mit der ihm zu dogmatischen Bekennenden Kirche anfreunden konnte, saß er zwischen allen Stühlen.

Mit den drei katholischen Kaplänen freundete sich Stellbrink hingegen schnell an, nachdem er Prassek 1941 eher zufällig kennen gelernt hatte. Nach einem schweren Bombenangriff auf Lübeck in der Nacht zum Palmsonntag (vom 28. auf 29. März) 1942 wurde dem evangelischen Pfarrer eine Predigt zum Verhängnis, in der er ausführte, dass „Gott in diesem Feuerhagel mit mächtiger Stimme geredet“ habe. Die Gestapo, die schon länger einen Spitzel auf die Kapläne angesetzt hatte, verhaftete jetzt nach und nach den evangelischen Pastor und die drei katholischen Kapläne, aber auch 18 Laien. Man warf ihnen vor, ausländische Radiosender gehört, gegen den Nationalsozialismus gerichtete Schriften verteilt und damit „defaitistische Strömungen gestärkt“ sowie den Hass auf den Nationalsozialismus geschürt zu haben. Bei den Durchsuchungen fand die Gestapo unter anderem Abzüge der Predigten von Galens.

Im Juni 1943 wurden der Pastor und die drei Kapläne zum Tode wegen „Vorbereitung zum Hochverrat und Rundfunkverbrechens“ verurteilt. Hingerichtet wurden sie ein halbes Jahr später, am 10. November 1943 in Hamburg-Holstenglacis, und zwar mit dem Fallbeil – „enthauptet“, wie es, vermutlich mit Blick auf das Vorbild der antiken Märtyrer, in der Literatur häufig heißt.

Eben dieses Ideal des Martyriums dürfte dem evangelischen Pfarrer und den drei katholischen Kaplänen angesichts ihres eigenen Schicksals durchaus vor Augen gestanden haben. Durch ihr bloßes Christsein und ihre Verkündigung wurden sie zum Anstoß und kamen zwischen die Mühlsteine der Mächtigen. „Martyria“ heißt ja zunächst einmal nichts anderes als „Zeugnis geben für Christus“, sei es gelegen oder ungelegen, mit allen Konsequenzen für den Zeugen. Der Tod für die Sache Jesu wird dabei nicht bewußt und gezielt angestrebt, er kann aber in der letzten Folge des Zeugnisgebens für Christus liegen. Nicht umsonst zählt die „Martyria“ neben Liturgia, Diakonia und Koinonia, also dem Gottesdienst, dem Dienst am Menschen und der Gemeinschaft, zu den identitätsstiftenden Grundvollzügen kirchlichen Lebens. Gerade in der Konfrontation mit einem totalitären System wie dem Nationalsozialismus, der sich nicht nur als politische Partei sondern zugleich als politische Religion verstand, der das Christentum überwinden und ablösen wollte, ist in kirchgeschichtlicher Perspektive die Kategorie des Zeugnisses für das Handeln von Christinnen und Christen adäquater als der Begriff Widerstand. So hat beispielsweise Heinz Hürten mehrfach darauf hingewiesen, daß es sich bei der Martyria um eine in der kirchlichen Tradition „vorgegebene Norm christlichen Verhaltens gegenüber einem unrecht handelnden Staat, offenes Bekenntnis zu Christus und geduldige Hinnahme der um seinetwillen erlittenen Schmach“ handelt.

Einer, der Zeugnis gibt für Christus, ein „Märtyrer“, ist kein Widerstandskämpfer im politischen Sinne. Er zeichnet sich eher durch passive Tugenden, eher durch Erleiden als durch Umsturzpläne und politische Konspirationen aus. „Amboss, nicht Hammer“ seien die Christen, erklärte Galen 1941 in einer seiner berühmten Predigten. Christen wehren sich nicht gewaltsam, nehmen die Waffe nicht in die Hand, sondern ertragen die Schläge. „Die Spiritualität des Martyriums ist nicht zuerst die Suche nach der eigenen Vervollkommnung oder eine persönliche Leistung, sondern die stellvertretende Ausprägung des gekreuzigten Christus am eigenen Leib.“ Diesem Ideal wurden auch die Lübecker Märtyrer gerecht. „Wenn sie mich holen, tun sie nur das, worauf ich lange warte“; erklärte Prassek besorgten Gemeindemitgliedern. Und das Ende seines Prozesses kommentierte er mit den Worten: „Gott sei Dank, dass dieser Quatsch vorbei ist!“ In den Abschiedsbriefen wird eine erstaunliche Gelassenheit und Zuversicht angesichts des Todes deutlich. „Wenn ihr mich fragt, wie mir zumute ist, kann ich Euch nur antworten: ich bin 1. froh bewegt, 2. voll großer Spannung!“, schrieb Lange in dem Brief an seine Eltern, den Thomas Mann als „das schönste Zeugnis für die Gabe christkatholischen Glaubens“ bezeichnete.

In der nationalsozialistischen Wahrnehmung zählten die katholischen Geistlichen neben Juden, Kommunisten und Freimaurern zu den wichtigsten „Staats- und Volksfeinden“. Die Zahl der vom Regime verfolgten Priester ist beeindruckend hoch: Von 43.000 Welt- und Ordensgeistlichen gerieten 11.500 mit Staats- oder Parteistellen in Konflikt, unter den Ordensmitgliedern jeder zehnte, unter den Weltpriestern mehr als jeder Dritte. Insgesamt 848 Mal verurteilten Gerichte katholische Geistliche zu Gefängnisstrafen, 1.183 Freiheitsstrafen verhängte die Gestapo, 417 deutsche Kleriker wurden in ein Konzentrationslager eingeliefert, zumeist nach Dachau, 109 von ihnen kamen dort ums Leben. 74 weitere Priester wurden hingerichtet oder ermordet.

Die regelmäßigen Versuche der kirchlichen Obrigkeit, zugunsten der verfolgten Pfarrer bei Staats- und Parteistellen zu intervenieren, blieben meistens ohne Erfolg. So auch im Fall der Lübecker: Der zuständige Osnabrücker Bischof Berning ließ seine Kapläne nicht im Stich. Auf mehreren Ebenen versuchte er eine Begnadigung zu erreichen. Ohne Erfolg: Am 5. Juli besuchte er die Kapläne im Untersuchungsgefängnis und verfasste anschließend einen Brief an Langes Eltern. Der Bischof berichtete: „Die Stunde, die ich bei meinen drei Priestersöhnen zubrachte, war eine der größten und ergreifendsten in meinem Bischofsleben. Die Stunde werde ich nie vergessen. Ich bete mit meinem ganzen Klerus weiter für die drei lieben Mitbrüder, ich bete auch für Sie, daß Sie so standhaft und gottergeben sein mögen wie ihr Sohn.“

Auch Bischof von Galen antwortete am 5. August 1942 auf eine Mitteilung Langes mit den Worten: „Ich kann es gut mitempfinden, welche Sorge Sie bedrückt, da nicht wenigen meiner mir so nahe stehenden Priester ein ähnliches Los zuteil geworden ist. Und da ich denselben nicht helfen kann! ... So schwer es werden mag: Wir wollen nicht vergessen, daß unser Heiland seinen Jüngern vorausgesagt hat, daß sie in der Welt Verfolgung leiden, und daß es das Zeichen der Auserwählung ist, wenn die Welt uns haßt. Und daß allen, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgung leiden, das Wort gilt: Freut euch und frohlocket, denn euer Lohn ist groß im Himmel.“

Am 21. Oktober lehnte der Reichsjustizminister Thierack das Gnadengesuch Bernings endgültig ab, nachdem zwei Monate zuvor eine neue Verordnung Begnadigungen erschwert hatte. Noch fünf Tage vor der Hinrichtung beauftragte Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione den Berliner Nunitus Cesare Orsenigo, sich für eine „Suspendierung“ der gegen die drei katholischen Geistlichen verhängten Todesurteile einzusetzen. Vielleicht tauchen im Rahmen des Seligsprechungsprozesses im Vatikanischen Geheimarchiv ja noch neue Dokumente dazu auf?

Während sich Berning und Galen für die katholischen Kapläne einsetzten, hatte Stellbrink von seinem Bischof, einem Mitglied der NSDAP, keine Hilfe zu erwarten. Im Gegenteil: Er wurde zunächst vorläufig und nach der Verurteilung endgültig seines Amtes enthoben, seine Angehörigen verloren alle Versorgungsansprüche. Immerhin wandte sich die Lübecker Pastorenschaften am 9. Juli 1943 mit einem Gnadengesuch „um der Familie des Verurteilten wegen“ an den Reichsminister der Justiz. Die Pastoren machen an die Ideologie der Machthaber erhebliche Zugeständnisse: Das Vergehen ihres ehemaligen Amtsbruders verurteilen sie „auf’s Schärfste“, Stellbrink habe sich aber „für deutsche Art und deutsches Volkstum mit allen seinen Kräften eingesetzt“, bevor er „auf die Bahn des Verbrechens gegen das Volk geraten“ sei. Sie verwiesen auf ein psychologisches Gutachten, dass Stellbrink angeblich „an der Grenze eines Wahns“ einordnete.

Es deutet einiges darauf hin, dass Stellbrink kein ganz einfacher Mensch war, sondern ein leidenschaftlich, ja fast fanatischer Wahrheits- und Gerechtigkeitssucher. Aber das erklärt noch nicht, warum sich die evangelische Kirche noch nach 1945 sehr schwer mit ihm tat. 1948 fragte Pfarrer Wilhelm Niemöller, ein Bruder Martin Niemöllers, Bischof Johannes Pautke, ob Stellbrink unter die Blutzeugen zu rechnen sei. Der Bischof erwiderte, das sei nicht leicht zu entscheiden. Stellbrink habe eher einen „politischen Kampf gegen das Dritte Reich“ geführt und dabei eine „unvorstellbare psychopathische Unvorsichtigkeit, ja Torheit“ an den Tag gelegt. Erst 1993 rehabilitierte die Kirchenleitung der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche den Pfarrer.

Stellbrink starb im Alter von 49 Jahren, die drei Kapläne der Lübecker Herz-Jesu-Kirche waren erst Anfang 30. Ihre Charaktere werden sehr unterschiedlich gezeichnet. Johannes Prassek galt als ungestümer, mitreißender Mensch, als stadtbekannter Charismatiker, dem Kritiker seine zu große, unvorsichtige Offenheit und seine menschliche Unmittelbarkeit zum Vorwurf machten. Hermann Lange hingegen war ein ruhiger, nachdenklicher Mensch, ein intellektueller „Bücherwurm“. Eduard Müller wiederum war ein zupackender Handwerker aus Neumünster, ein Spätberufener, dessen Priesterausbildung am Seminar in Driburg vor allem durch Spenden finanziert wurde, was ihm offenbar immer ein wenig peinlich war. Den Gemeindemitgliedern blieb Müller als ein durchschnittlich begabter, aber eifriger und beliebter Priester mit einem Sinn für die Alltagsprobleme der Menschen in Erinnerung. Meine Damen und Herren, Sie werden fragen, was ergibt sich nun aus all diesen kirchenhistorischen Bemühungen um eine sachgerechte Einordnung der Kapläne Prassek, Lange und Müller? Soll man sie nun zur Ehre der Altäre erheben oder wäre es nicht angemessener, angesichts des offenkundigen Fehlens von aufsehenerregenden Aktionen gegen das NS-Regime die Finger von einem Seligsprechungsverfahren zu lassen?

Lassen Sie mich zum Schluß dazu vier Thesen aufstellen, über die ich nachher gerne mit Ihnen ins Gespräch kommen würde:

1. Grundsätzlich teile ich angesichts der „Inflation“ von neuen Seligen und Heiligen, die uns das Pontifikat Johannes Pauls II. beschert hat, die Skepsis vieler vor weiteren Selig- und Heiligsprechungsverfahren. Angesichts der in die Tausende gehenden Zahlen habe ich längst den Überblick verloren. Johannes Paul II. hat mehr Christinnen und Christen zu den Ehren der Altäre erhoben, als alle seine rund 265 in der offiziellen Papstliste geführten Vorgänger zusammen. Damit ist – wie es jüngst ein römischer Prälat augenzwinkernd formulierte – die Statik des Himmels, wenn man ihn sich als gläserne Glocke über der Erdscheibe vorstellt, angesichts der zahllosen neuen Steinaltäre ernsthaft in Gefahr. Insofern kann man fragen, ob wirklich jede deutsche Diözese ihren Seligen aus der Zeit des Nationalsozialismus braucht. Geht es hier wirklich nur um die amtliche „Feststellung des Tugendgrades eines Dieners Christi“ oder sucht man schlicht eine Möglichkeit, um vom Versagen von Kirche und Gläubigen im Kontext der systematischen Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden während des Dritten Reiches abzulenken? Braucht Hamburg die Lübecker Märtyrer, weil Rottenburg seinen Bischof Sproll selig gesprochen haben will, wie Münster es für Bischof Galen schon erreicht hat?

2. Vielleicht sollte man sich aber die Unterschiede zwischen einer Selig- und einer Heiligsprechung doch einmal bewußt machen. Nach dem derzeit geltenden Kirchenrecht wird bei einer Heiligsprechung allen Gläubigen auf der ganzen Welt die gelungene Nachfolge „eines Dieners Christi“ als leuchtendes Beispiel vor Augen geführt. Bei einem Seligsprechungsverfahren hingegen geht es nur um die Erlaubnis zur Verehrung einer bestimmten Person in einer bestimmten Ortskirche, also einer Diözese oder Kirchenprovinz. Der Selige soll „nur“ zur Identitätsstiftung einer Teilkirche, nicht der ganzen Weltkirche beitragen. Dann aber stellt sich die Frage: Warum muss ein Seligsprechungsverfahren, das doch nur diözesane Relevanz hat, überhaupt vom Papst in Rom durchgeführt werden? Warum steht diese Kompetenz nicht dem zuständigen Ortsbischof, im Fall der Lübecker Märtyrer also Seiner Exzellenz Erzbischof Thissen von Hamburg, zu? Als Nachfolger der Apostel und Hirte der Herde der Erzdiözese Hamburg kann er doch am besten beurteilen, welche Vorbilder im Glauben seine „Schäfchen“ brauchen und welche nicht. Ob man in Rom die Bedürfnisse der norddeutschen Diaspora wirklich so gut kennt wie hier vor Ort? Jedenfalls läge ein solches Prozedere in der Konsequenz der vielgerühmten Communio-Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, wonach die Kirche nicht nur aus, sondern auch in den einzelnen Teilkirchen besteht.

3. Eigentlich bräuchten wir uns aber all diese Probleme gar nicht zu machen und müßten all diese Differenzierungen gar nicht vornehmen, wenn wir „Traditionalisten“ wären, das heißt, uns einfach an die kirchliche Tradition hielten. In der alten Kirche brauchten nämlich Märtyrer, Christinnen und Christen also, die ihr Eintreten für den Glauben mit ihrem Blut bezahlten, überhaupt kein Selig- und Heiligsprechungsverfahren. Auch eine entsprechende Verehrung oder gar ein Wunder waren nicht nötig. Der Märtyrer als Märtyrer war eo ipso, sozusagen automatisch ein Heiliger. Damit könnte man auch die Akten des Seligsprechungsprozesses für die Lübecker Märtyrer schließen. Denn daß sie der neuheidnischen Staatsmacht im Weg waren und deshalb hingerichtet wurden, dürfte außer Zweifel stehen. Das entspricht ziemlich genau dem Vorbild des heiligen Viktor, auf den Galen in seiner Predigt anspielte. Das entspricht dem Vorbild der Märtyrer im antiken Rom.

4. Aber wenn die Hamburger Kirche trotzdem ein Seligsprechungsverfahren nach dem Buchstaben des Kirchenrechts anstrebt, dann wird sie sich die Frage gefallen lassen müssen, was denn die Lübecker Märtyrer aus der Masse der Opfer des Nationalsozialismus hervorhebt, was sie so einmalig und unverwechselbar macht, dass sie es verdienen, zu den Ehren der Altäre erhoben zu werden. Eine Antwort auf diese Frage dürfte schwer fallen. Ein „Alleinstellungsmerkmal“ läßt sich für die drei Kapläne nämlich nicht finden. Vielmehr teilen sie das Schicksal einer ganzen Generation von Priestern, auch wenn nicht alle ihr Zeugnis für Christus mit dem Leben bezahlen mussten. Die Lübecker Märtyrer waren keine Menschen ohne Fehl und Tadel, sie konnten nicht alle Grenzen überwinden, die ihre Zeit, ihre Gesellschaft, ihre Veranlagung, ihre Erziehung und ihre Kirche ihnen setzten. Aber – so wird man weiter fragen – müssen Selige als Vorbilder im Glauben das eigentlich können? Denn wie sollte das exemplarische und vorbildhafte ihres Zeugnisses für uns „Otto-Normal-Christen“ wirksam werden können, wenn sie schon zu Lebzeiten in dermaßen himmlischen Höhen geschwebt hätten, dass sie für uns unerreichbar wären? Nur wenn man diese Frage verneint und sich gleichzeitig von jeder vollmundigen Widerstandrhetorik verabschiedet, kommt ein Seligsprechungsverfahren aus kirchenhistorischer Sicht überhaupt infrage. Dann geht es einfach um die christliche Grundkategorie des Zeugnisses, der „Martyria“, das im Extremfall bis zum Martyrium im heutigen Wortsinn führen kann.

Das Zeugnis der Lübecker war nicht so spektakulär und wirkungsmächtig wie die Predigten eines Galen oder der Attentatsversuch eines Stauffenberg. Es war nicht die große Geste eines Widerstands im engeren, politischen Sinne. Aber nicht umsonst steht im ersten Korintherbrief: „Das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen“ (1 Kor 1, 27). Die Lübecker Märtyrer gerieten in die Mühlen der Mächtigen, weil sie so waren, wie sie waren, und durch ihr bloßes Dasein als Christen in einem totalitären System Anstoß erregten. Weil sie in der Bedrängnis gleichgesinnte Christen suchten und fanden auch über Konfessionsgrenzen hinweg, was damals keineswegs selbstverständlich war, und in der Urteilsbegründung eigens hervorgehoben wurde. Die Lübecker wurden, um die eingangs zitierten Worte Galens wieder aufzugreifen, zu „Blutzeugen nicht nur des Christenglaubens, sondern auch der Menschenwürde“. Spätestens als die Nationalsozialisten daraufhin mit aller Härte gegen sie vorgingen, wurde vielleicht die Schwäche, auf jeden Fall aber die Schande der vermeintlich Starken offenbar.

 

Info


Prof. Dr. Hubert Wolf, Direktor des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte in Münster, hielt den Vortrag beim Medienempfang des Erzbischofs von Hamburg am 5. September 2007. Der nebenstehende Text ist die Pressefassung.

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